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Im Reiche der Phantastik

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Jede Kunstausstellung ist zugleich eine Ausstellung von Phänomenen der Phantasie. Nun ist aber Phantastik etwas anderes als Phantasie. Sie ist eine Steigerungsform der Phantasie, weshalb sie der phantasieunbegabte Mensch zuweilen als „verstiegen" empfinden mag. Phantastik ist entfesselte Phantasie. Eine solche Entfesselung der Phantasie, wie sie um die Jahrhundertwende durch die Entdeckung des „Unbewußten" erfolgte, konnte für die Kunst nur von Nutzen sein. In der Tat finden sich in einer beispielhaften Ausstellung „P h a rita, st ikin der Graphi k", wie sie jetzt vom Europäischen Forum in Alpbach (Tirol) im Rahmen der „10. Internationalen Hochschulwochen" gezeigt wird, die Namen aller wesentlichen Künstler unseres Jahrhunderts, von Barlach bis Braque, von Matisse bis Chagall. Da die Ausstellung zugleich auch die Entwicklung der Phantastik in der Graphik durch die letzten beiden Jahrhunderte verfolgt, fällt schon an der Liste der vertretenen Namen auf, um wieviel mehr die Kunst der Gegenwart „phantastisch" ist, als die vergangener Zeiten. Francisco Goya (1746 bis 1828, der älteste der vertretenen Künstler), der durch Blätter aus den „Proverbios" und aus „Caprichos" repräsentiert wird, Honore Daumier (Blätter aus „Charivari"), Felicien Rops („Die Pest") und Odilon Redon („Die Versuchung des hl. Antonius", „Die Apokalypse des hl. Johannes”) sind zwar aus der Kunstgeschichte, soweit sie lebendig geblieben ist, nicht wegzudenken, ihre Zeit wird aber durch sie auch nicht annähernd umschrieben.

War das Phantastische im Mittelalter (Bosch, Brueghel) bedingt durch den Glauben an den

Teufel, an apokalyptische Monster und an verschiedenartige Dämonen, an lauter unsichtbare Wesen also, so ist in der Phantastik der Gegenwart und in ihren Erscheinungsformen eine weitgehende Entpersönlichung eingetreten. Nicht mehr der Teufel tritt uns entgegen, sondern das Teuflische der Zeit, in der Natur wirken nicht mehr Dämonen, sondern die Natur selbst erscheint dämonisch. Diese Entpersönlichung hat eine neue Gestaltung nötig werden lassen, die vielen den Zugang zur „modernen Kunst" verschließt. Es war nicht nur leichter, personifizierte Dämonen darzustellen als das Dämonische, es war auch leichter, diese personifizierten Erscheinungen zu erkennen. Ja, der Bereich des Phantastischen in der Kunst hat sich überhaupt erweitert.

In der Malerei fand Paul Klee in seiner Erinnerung die Bilder, die das verborgene Wesen der Dinge, die er erfahren hatte, sichtbar machten. Was er darüber schreibt, kann für einige Künstler seiner Generation gelten: „Unser pochendes Herz aber treibt uns hinab, tief hinunter zum Urgrund. Was dann aus diesem Treiben erwächst, möge es heißen wie es mag, Traum, Idee, Phantasie, ist erst ganz ernst zu nehmen, wenn es sich mit den passenden bildnerischen Mitteln restlos zur Gestaltung verbindet. Dann werden jene Kuriosa zu Realitäten, zu Realitäten der Kunst, welche das Leben etwas weiter machen, als es durchschnittlich scheint." Vergleichen wir diese Worte mit denen Caspar David Friedrichs, des Malers der „unendlichen Landschaft" der Romantik, der sagte, ein Maler sollte das malen, was er in sich sähe, nicht nur. was er vor sich sähe, dann spüren wir, wieviel an Unsichtbarem sichtbar gemacht werden konnte in der Zeit von Friedrich zu Klee.

Neben zwei Farblithos von Klee sind vor allem die Radierungen von Marc Chagall zu den Fabeln von Lafontaine zu nennen. In jedes einzelne Blatt dieser Folge ist die ganze mystische Fülle der Welt eingegangen. Von Georges Braque hängt das Farblitho „Der Fisch". Es ist derselbe Fisch, den der Künstler für den Tabernakelkasten der Kirche von Assis geschaffen hat. Bei Werner Scholz, der jetzt ständig in Alpbach lebt, ist die Phantastik weitgehend durch die Farbe mitbestimmt, ohne daß seine Formen, wie dies etwa bei Legers „Herzkönig" der Fall ist, den Boden des „Konkreten" unter den Füßen verlieren. Unter den Blättern junger österreichischer Graphiker stechen die von

Moldovan, Kreutzberger, Paar hervor. Ernst Fuchs erweist sich wieder einmal in zerstückelten Porträts als raffinierter Imitator, dem es an eigener Phantasie gebricht. Ein Fest für sich sind die Federzeichnungen von Paul Flora: „Galgenfest der Krüge", „Eifriger Polizist", „Planetenlandschaft", wohl die heitersten Arbeiten der Ausstellung. Sie beweisen, daß in der Phantastik Humor keineswegs immer grotesk sein muß. — Die Ausstellung, von Walter Kasten von der Neuen Galerie der Stadt Linz (Wolfgang-Curlitt-Museum) vorzüglich gestaltet, wird durch eine Reihe von Photographien ergänzt, die von der primitiv-augenfälligen Realität eines Ben Shahn bis zu den vollendeten Kunstimitationen eines Salvador Dali reichen.

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