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Offene Fenster in die Vergangenheit

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TOPOGRAPHIA HELVETIAE, RHAETIAE ET VALESIAE: Das ist Beschreibung unnd eygentliche Abbildung der vornemb- sten Stätte und Plätze in der Hochlöblichen Eydgenoßschafft, Craubündten und etlicher zugewandten Orthen. In Truck gegeben und verlegt durch Matthaeum Merian. Neuausgabe mit einem Nachwort von Lucas Wüthrich. Bärenreiter-Verlag, Kassel und Basel. 100 Textseiten, 3 Karten und 99 Ansichten. Preis 42 DM.

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TOPOGRAPHIA HELVETIAE, RHAETIAE ET VALESIAE: Das ist Beschreibung unnd eygentliche Abbildung der vornemb- sten Stätte und Plätze in der Hochlöblichen Eydgenoßschafft, Craubündten und etlicher zugewandten Orthen. In Truck gegeben und verlegt durch Matthaeum Merian. Neuausgabe mit einem Nachwort von Lucas Wüthrich. Bärenreiter-Verlag, Kassel und Basel. 100 Textseiten, 3 Karten und 99 Ansichten. Preis 42 DM.

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Ober das Unternehmen, die Topo graphia Germaniae Merians in Faksimile druck neu herauszubringen, ist bereits an läßlich der Besprechung des Bandes Böh men—Mähren—Schlesien („Die Furche“ Nr. 39, 1960) das Grundsätzliche gesag worden. Seither sind in der rüstig von' statten gehenden Ausgabe bis Jahresendi die Bände Schweiz und Schwaben er- schienen.

Die Schweiz erschien als erster Band ir der Topographie Merians im Jahre 1642 Als gebürtigem Basler mußte ihm seir Heimatland besonders am Herzen liegen Deswegen ließ er nach Erscheinen jeden der 13 alten Orte durch seinen Sohn eir Widmungsexemplar überreichen. Man hat es ihm nicht sehr gedankt: zehn Orte einigten sich darauf, Merian je acht Kronen zu schenken; Zug und Außerrhoder waren mit dem Text unzufrieden und „haben ihme nichts geben, auch das Buect wegen der Fehleren, so er in der Beschreibung ihrer Orte begangen, nit acceptierer wollen“. Einzig Glarus hatte an Meriar aus Freude über die erste uns bekannte Ansicht seines Hauptortes gleich nach Erhalt des Buches eine Belohnung angewiesen.

Heute freilich ist die Anteilnahme am Werk Matthaeus Merians in stetem Wachsen begriffen. In den klaren und freundlichen Stichen hat sich oft die früheste naturnahe Ansicht eines Ortes erhalten. Vor allem in Deutschland bringt man dei Topographie wegen der Kriegszerstörungen an historischen Gebäuden größtes Interesse entgegen. In der Schweiz sind die alten Städte hinwieder durch Um- und Überbauung entstellt und dem ehemaligen Zustand entfremdet worden. Der Tex* auch dieses Bandes stammt von Martin Zeiller, der wiederum alte, wertvolle Quellen verwendete, die freilich mituntei den Nachteil haben, daß die damals neueste politische Entwicklung nicht aufscheint. Die Werke von Aegidius Tschudi und Valerius Anselm, den berühmten Schweizer Geschichtsschreibern im 16. Jahrhundert, konnte er allerdings nicht heranziehen, weil sie noch nicht gedruckt vorlagen, Dafür stützte sich Zeiller auf sein eigenes ausgezeichnetes, Reisehandbuch „Itinerarium Germaniae' Nov-Antiquae“. Von großer Bedeutung aber sind die Bilder. Einige von ihnen hatte Merian schon vor Jahrzehnten in der Schweiz ausgeführt, die Mehrzahl aber nach gedruckten oder gezeichneten Vorlagen anderer Künstler gestochen. Für die zur Erstausgabe der Schweizer Topographie neu geschaffenen Tafeln zog Merian an Ort und Stelle lebende Künstler heran. Eine ausgesprochene Neigung zur exakten Darstellung der Landschaft kommt bei Merians eigenen Blättern von den frühesten bis zu den spätesten Arbeiten zum Ausdruck. Wenn man also berechtigt ist, die Landschaft Merians eine topographische zu nennen, so ist es dennoch falsch, zu behaupten, sie sei aus einer topographischen Absicht entstanden. Der junge Merian bannte Städte und Schlösser aus Freude an ihrer natürlichen Schönheit auf das Papier, nicht aus Gründen der Dokumentation. Die Landschaft war es, die den Funken seines Künstlertums entzündet und seine künstlerische Tätigkeit ausgelöst hatte.

Kritik an den Bildern machte sich erst im 19. Jahrhundert bemerkbar, als man begann, mit wissenschaftlichen Methoden die alten Städtebilder zu rekonstruieren, und als die Angst und Scheu vor der Alpenwelt überwunden war. Jacob Burck- hardt äußerte sich, Merian habe eine völlige Unfähigkeit gezeigt, die Alpen realistisch wiederzugeben; er berücksichtigte aber nicht, daß die Menschen des 17. Jahrhunderts die Alpen ganz anders sahen als wir heute und daß sie das Gewaltige der Gebirgswelt mit expressionistisch anmutenden Mitteln auszudrücken suchten. — Der Einwand, Merian sei ungenau gewesen, bezieht sich in den meisten Fällen nicht auf ihn selber, sondern auf die Lieferanten der Vorlagen, die richtigzustellen er natürlich nur selten in der Lage war. Vielmehr nötigt uns Merians Genauigkeit hohe Achtung ab, denn daß er inmitten des barocken Zeitalters die Fähigkeit besaß, mit Klarheit und weitgehender Genauigkeit die Wirklichkeit künstlerisch wiederzugeben, ist ganz erstaunlich.

Über das heutige Staatsgebiet der Schweiz hinausgehend, umfaßt die Topographie auch die Exklave Mülhausen (Elsaß) und das Veltlin mit Sonders und Chiavenna, die bi« 1797 zur Eidgenossenschaft gehörten.

In einer späteren Auflage wäre die historisch wohl nicht haltbare Auffassung eines Passus aus dem Vorwort Merians abzuändern, die im Nachwort von Lucas Wüthrich ihren Niederschlag gefunden hat. Merian schreibt nämlich im Vorwort: „Die Herren Eydgenossen und ihre Confoe-

derierte, die Graubündter und Walliser, (sind) nicht allein von Uhralten Zeiten unter dem Namen des Teutschen Reiches begriffen gewesen, sondern werden auch jetzt noch zum Teutschland gerechnet“; und Wüthrich interpretiert: „Daß dieser Passus in den späteren Auflagen, nachdem die Schweiz ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, wiederholt wurde, ist allein durch die Nachlässigkeit von Merians Erben zu erklären und bedeutet keineswegs eine Vorwegnahme des großdeutschen Gedankens unseres Jahrhunderts.“ Der Historiker kann die Erben Merians von jeder Nachlässigkeit freisprechen, denn dieser Passus zeigt vielmehr den Umfang des damaligen Begriffes Deutschland. Dazu schreibt Merian selbst in seinem Vorwort: „Und werden derzeit folgende Länder zum rechten Deutschland gerechnet … 16.: …

Preussen / Liffland / wiewol in diesen I neben der Teutsche / auch andere Sprachen seyn … Zu diesen Ländern thun teils auch Siebenbürgen …“ Von diesen Ländern gehörte Siebenbürgen niemals, Livland auch nicht und Preußen seit dem zweiten Thorner Frieden, 1466 (wenn auch vom Reich niemals anerkannt), nicht mehr zum Heiligen Römischen Reich. Dies beweist, daß der Begriff Deutschland damals ganz allgemein über das Heilige Römische Reich hinausgehend, auf den deutschen Kulturraum im weitesten Sinn zwischen Dünkirchen und Narwa, zwischen Zermatt und Kronstadt, angewandt wurde. Daß sich Merian selbst auch sonst keineswegs an bestehende Grenzen hielt, zeigt die Tatsache, daß er in der Schweizer Topographie auch das Ländchen Chablais am Genfer See mit den Städten Thonon und Evian behandelte, welches aber nür von 1536 bis 1564 zur Eidgenossenschaft gehörte. Zu Merians Zeiten gehörte das Ländchen seit mehr als hundert Jahren wieder zum Herzogtum Savoyen.

Allein: dieser Verbesserungsvorschlag bezieht sich auf das Nachwort und nicht auf die Topographie selbst. Jede Kritik am einzelnen des Textes oder der Abbildungen muß vielmehr in Staunen und Ehrfurcht vor dem unerschöpflichen Reichtum und der Güte von Merians Topographie, in der die Schweiz mit Recht den ersten Platz einnimmt, verstummen.

TOPOGRAPHIA SUEVIAE: das ist Beschreib vnd Aigentliche Abcontrafeitung der fürnembsten Statt vnd Platz in Ober vnd Nider Schwaben, Hertzogthum Würten- berg, Marggraffschafft Baden vnd andern zu dem Hochlöbl. Schwäbischen Craiße gehörigen Landschafften vnd Orten. An Tag gegeben vndt Verlegt durch Mat- thaeum Merian. — Neuausgabe, mit einem Nachwort von Lucas Wüthrich. Bärenreiter-Verlag, Kassel und Basel. 232 Textseiten, 3 Karten und 105 Ansichten. Preis 46 DM.

Als zweiten Band seiner Topographie gab Merian der Ältere anläßlich der Frankfurter Ostermesse 1643 den Band Schwaben heraus. Es lag für ihn nahe, sich nach der Behandlung seiner Heimat, der Schweiz, dem nördlich gelegenen Gebiete Schwaben zuzuwenden, das außerdem zwischen seiner alten Heimat Basel und seiner neuen Heimat Frankfurt lag. Im Gegensatz zu den anderen Bänden der Topographie bereitete ihm bei Schwaben die genaue Festlegung des Begriffsumfanges keine geringen Schwierigkeiten. Das frühere Her-

zogtum Schwaben war seit dem Untergang der Hohenstaufen als solches nicht mehr vorhanden; zudem ergriffen die zahlreichen, auf seinem Gebiete entstandenen neuen Herrschaften teilweise von außerschwäbischem Territorium Besitz. Merian und sein Textautor Zeiller entschlossen sich, grundsätzlich nur jene Gebiete zu berücksichtigen, die einmal im Bereiche des Herzogtums Schwaben östlich und nördlich des Rheins gelegen waren.

Martin Zeiller gab in seiner „Vorrede" und in seiner „Beschreibung des Schwabenlandes“ die zu seiner Lösung des Gebietsproblems nötigen Erklärungen: Graubünden, der Thurgau und Zürich waren im 15. Jahrhundert zur Schweiz gekommen und daher in der Topographia Hel- vetiae untergebracht worden. Zum Band Elsaß schlug Zeiller außer den linksrhei-

nischen Gebieten auch den österreichischen Breisgau mit Freiburg und alle anderen vorderösterreichischen Gebiete (wie Säckingen, Waldshut usw.). Im Gegensatz dazu blieb das zum österreichischen Kreise gehörige Vorarlberg im Band Schwaben. Die Ortsbeschreibungen Vorarlbergs sind besonders umfangreich, so daß die Annahme berechtigt ist, daß Zeiller diese Orte besonders gut gekannt und geliebt haben muß. Von den 31 schwäbischen Reichsstädten haben 24 Merian eine An-

sicht — oft ihre älteste oder schönste — zu verdanken. Insgesamt werden in der zweiten Auflage von 1655, die diesem Nachdruck zugrunde liegt, 380 Städte, Marktflecken und Schlösser behandelt. Zu den Ortsansichten kommen noch drei Karten (Schwaben, Württemberg und die Grafschaft Tettnang) und interessanterweise fünf einzelne Objekte (drei in Augsburg und zwei in Ulm). Originellerweise ist im Band Schwaben die Stadt Arbon im Schweizer Kanton Thurgau enthalten, weil der Bischof von Konstanz als ursprünglicher Besitzer dieses Ortes seine Rechte erst 1798, kurz vor der Aufhebung des Bistums, aufgegeben hat. Hingegen ist — und dies wäre im Nachwort zu erwähnen gewesen — im Schwabenband die Stadt Rottweil enthalten, die von 1463 bis 1632 als Exklave zur Schweiz gehörte. 1632 wurde sie im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges von den Württembergi- schen belagert und eingenommen. Obwohl die Regelung der Zugehörigkeit erst im Westfälischen Frieden erfolgte, hatte Merian ihr bereits vorgegriffen.

Was den Wert und die Bedeutung der Stiche Merians angeht, so gilt auch hier, was schon beim Band Schweiz bemerkt wurde. Man hat ihnen mitunter den Vorwurf der Monotonie gemacht. Aber jedes Blatt enthält viel Eigenes und wirkt für sich allein als Kunstwerk; im Verein mit anderen wird ihm die Gleichmäßigkeit zum Verhängnis. Auch in der architektonischen und topographischen Genauigkeit liegt nicht so sehr die Stärke der Merian-Stiche, sondern darin, daß die Blätter uns das Bild der Städte in ihrer letzten mittelalterlichen Ausbildung, bevor sie über ihre Mauern hinausgegriffen haben, wiedergeben.

Über den Verfasser der Ortsbeschreibungen, Martin Zeiller (einem gebürtigen Steiermärker) findet man in der älteren Literatur öfter sehr abfällige Urteile. Erst spät hat man die Leistung Zeillers erkannt und ihm die verdiente Ehre und Rehabilitation verschafft. Die Belesenheit Zeillers war — dies beweisen die zahlreichen Zitate und die vielen angegebenen Quellen — fast unermeßlich. Es dürfte ihm kaum ein Werk entgangen sein, das für seine Belange nicht von Bedeutung gewesen ist. Wie in der Topographia Hel- vetiae stützte er sich auf sein eigenes, vorzügliches Reisehandbuch „Itinerarium Germaniae"; wie in diesem hat Zeiller auch in den Texten zu Merians Topographie den Beweis seiner außerordentlichen Befähigung zum Topographischen und einer extremen Wissenskapazität erbracht. Der moderne Leser freüt sich an den interessanten, oft reizvollen Dingen und Geschehnissen einer vergangenen Zeit, über die Zeiller so gründlich zu berichten weiß.

Gerade heute mag es manchem Trost und Hilfe sein, sich mit Martin Zeiller als Begleiter im Geist in die Vergangenheit zu versetzen und an den Stichen Merians die auf ihnen ausgebreitete ferne Schönheit zu genießen. Jeder, der Schwaben liebgewonnen hat, muß an dem Gemeinschaftswerk von Merian und Zeiller Freude haben und es dankbar aufnehmen.

Hanns Salaschek

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