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Abschied von unserer Welt

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Otto Schulmeister hat viel gelesen und viel nachgedacht und daraus Ist das Buch entstanden: „Die Welt, die wir verlassen.“ Schon der Titel kündet an, daß es sich um ein pessimistisches Buch handelt, weil es ja um ein Verlassen, um ein Abschiednehmen .geht. Doch ganz so pessimistisch ist das Buch nun auch wieder nicht. Wenn nämlich der Autor zehn Kapitel hindurch den Leser durch den Wolf des Pessimismus gedreht, ihn gewissermaßen geistig faschiert hat, kündet er unsere Befreiung an, daß nämlich unter der Kruste der Traditionen die Tradition selbst wieder zutage tritt und die historische Verfremdung weicht.

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Otto Schulmeister hat viel gelesen und viel nachgedacht und daraus Ist das Buch entstanden: „Die Welt, die wir verlassen.“ Schon der Titel kündet an, daß es sich um ein pessimistisches Buch handelt, weil es ja um ein Verlassen, um ein Abschiednehmen .geht. Doch ganz so pessimistisch ist das Buch nun auch wieder nicht. Wenn nämlich der Autor zehn Kapitel hindurch den Leser durch den Wolf des Pessimismus gedreht, ihn gewissermaßen geistig faschiert hat, kündet er unsere Befreiung an, daß nämlich unter der Kruste der Traditionen die Tradition selbst wieder zutage tritt und die historische Verfremdung weicht.

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Als geistigen Führer hat sich Schulmeister den Philosophen auf dem Kaiserthron gewählt, Mark Aurel, der im Jahre 180 nach Christi starb. Er war ein Cäsar, der viel nachdachte und deshalb Pessimist wurde, der aber auch schon Ideen wie etwa die Gleichheit der Menschen vertrat. Jedenfalls lebte dieser Kaiser in einer Zeit des Umsturzes, der Anfechtung und der Angst. Er schrieb Selbstbetrachtungen oder besser noch Selbstgespräche, denn mit wem sollte er auch reden, da er doch Cäsar und Gott in einem war. Auch Schulmeister führt Selbstgespräche, natürlich nicht von cäsarisch-göttlicher Warte, aber sehr stark Ichbezogen, weil er weiß, daß es heute zwar viele Diskussionen zwischen Menschen gibt, die in erster Linie aneinander vorbei oder gegeneinander reden, daß aber kaum mehr Gespräche zwischen dem Ich und dem Du zustande kommen. Jedenfalls baut Schulmeister eine Brücke von Mark Aurels Selbstgesprächen zu seinen eigenen Betrachtungen über das Heute, in dem gleichfalls Umsturz, Anfechtung und Angst herrschen. Mark Aurel meint, der Mensch müsse nach innen graben, will er die Quelle des Guten finden. Schulmeister kommt Im Grunde zur gleichen Erkenntnis, nur erfolgte in der Zwischenzeit der Sieg des Christentums, das Mark Aurel noch verfolgen ließ, an das Schulmei-meister, wenn auch mit einem Aber, glaubt und dessen Niedergang ihn mit tiefster Sorge erfüllt. Und wie Mark Aurel seine Selbstbetrachtungen im Feldlager schrieb, von wo aus er eine Welt verteidigte, die sowieso dem Untergang geweiht war, so fühlt sich auch Schulmeister in einer Art Feldlager. Christentum und Antike bilden das Fundament der Welt, aus der wir kommen. Nun ist nach Schulmeisters Ansicht das alte Europa dahin, aber auch Amerika und Rußland zeigen sich vom Sog dieses Prozesses erfaßt. Die farbigen Rassen sammeln sich, und der weiße Mann weiß sich in der Defensive. Das Industriesystem trennte uns von den Grundlagen des bisherigen Lebens. Bibel, Homer, Piaton und Cäsar sind nur mehr lexikalisches Wissen geworden, deren Inhalte man kennen muß, um Kreuzworträtsel zu lösen oder sich am Quiz beteiligen zu können. Zur Signatur unserer Zeit gehören ferner ihr schlechtes Gewissen, die geistige Inflation und der Verfall von Leitideen. Als richtig wird nur das angesehen, was funktioniert, und vom Technischen her wird das Kriterium auf das soziale und persönliche Leben übertragen. Dem Tragischen wird ebenso jedes Recht auf eine Daseinsberechtigung abgesprochen wie der Transzendenz ins Übernatürliche. Der Nihilismus ist der Vater dieser unserer Welt der radikalen Profanität, deren Parole heißt: Du mußt das Beste aus dem Leben machen. Über alles andere denke nicht nach. Das führte zum Jugendlkult im Gredsenalter und zu den greisenhaften Zügen im Antlitz der Jugend.

Schulmeister sieht in der gegenwärtigen geistigen und politischen Lage zu viele Indizien dafür, daß der Europäer an einem Wendepunkt seiner Entwicklung angekommen ist und nicht einmal mehr die Kraft zu den bisher so charakteristischen Renaissancen in der christlich-abendländischen Welt aufbringt. Denn die beiden Quellen derartiger Renaissancen sind versiegt. Das griechischrömische Erbe ist zu einer Kostüm-leihanstaQit für Literatur, Psychoanalyse und Filmindustrie geworden. Das christliche Erbe aber ist verschüttet durch politische Pseudoreli-gionen, durch die Überflußzivilisation und durch die Hybris der Menschen, sich selbst zum Baumeister der Welt aufzuspielen. An Hand von zehn

Stichworten verfolgt der Autor die Entwicklung, die den Zustand von heute schuf: Religion, Autorität, Tradition, Fortschritt, Demokratie, Rechtsstaat, Wissenschaft, Weltfiriede, Persöniichkieit und Humanismus. Die Skepsis und der Vorbehalt Schulmeisters zur Entwicklung dieser geschichtlichen Brscheinigungen sind aus den Untertiteln der einzelnen Kapiteln zu ersehen: Autorität — Der entmündigte Vater; Tradition — Geschichte als Museum; Demokratie — Die Freiheit und ihre Zuschauer; Rechtsstaat — Eine Frage des Datums? Humanismus — Liebe und Hormonspiegel. Vom Streben nach dem Weltfrieden blieb nach Schulmeisters Ansicht nur der Nichtkrieg. Der Fortschritt aber, meint der Autor, wird Rückschritt, wenn in ihm der Mensch nicht über sich selbst hinausgeht. Wie aber geht der Mensch über sich hinaus? Wenn er seine Einzigartigkeit erkennt. Diese aber ist ohne den Schöpfer und ohne übernatürliche Bestimmung nicht zu begründen.

Die Fragen, die Schulmeister stellt, lauten: Haben wir alles falsch gemacht? Haben wir es uns zu billig gemacht? Wer von uns hat nichts zu verbergen? Die Fragestellung selbst enthält auch schon die Antwort. Die Selbstvergessenheit wurde zum Symbol der älteren Generation. Das aber rief wieder Unbehagen in der Jugend hervor, so daß es zu Verständigungsschwierigkeiten nach Art einer babylonischen Sprachverwirrung zwischen Alt und Jung kam. Es ist naheliegend, daß Schulmeister auch dem „Tod Gottes“ ein Kapitel widmet. Für ihn bedeutet er einen Karfreitag in Permanenz. Dem Nietzsche-Wort: „Das Evangelium stand dem Menschen im Weg“, setzt Schulmeister entgegen: Der Mensch stand dem Evangelium im Weg. Nun sind solche apodiktische Sätze grundsätzlich falsch.

Der Autor sieht den Untergang des historischen Christentums, weshalb uns nur die Sprache der Armen bleibt. Diese Armut aber darf man nicht verbergen wollen, weil sie unser letzter Reichtum ist. Typisch schulmeisterlich ist die Folgerung: Man muß denen die Treue halten, „die nicht einmal mehr wissen, wie, ja, daß sie arm sind.“ Trotz allem Pessimismus sieht auch Schulmeister das alte Morgenrot der Hoffnung. Ein wenig liebäugelt er mit Teil-hard de Chardin, nach dessen Ansicht das Universum die Gestalt Christi annehmen und der Mensch sich zum Gottmenschen entwickeln wird, der in sich alles integriert. Schulmeister schließt sein Buch mit dem Hinweis, das wir alle nur Heimkehrer sind in das Licht, das Teil-hard de Chardin das „Licht ohne Abend“ nennt.

Schulmeisters Buch regt zweifellos zum Nachdenken an. Vielleicht sieht der Autor vieles zu pessimistisch Die Europäer haben bis jetzt eine staunenswerte Kraft entwickelt, Zeitenwenden zu überdauern. Ähnliches gilt vom Christentum, das seinen angekündigten Untergang noch immer überlebte. Und die schreckliche Angst, die auf uns allen lastet, vermag vielleicht wieder, sobald die Epoche des Zerredens und Zerstörens vorübergegangen ist, das einfachste Wort zu überwinden, das zugleich auch am himmlischsten klingt, weil es in der Bibel steht: „Fürchtet euch nicht!“

DIE WELT, DIE WIR VERLASSEN“, von Otto Schulmeister, Molden-Verlag, Wien—München—Zürich 1970, Preis S 175.—.

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