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CARL GUSTAV JUNG DENKER DES „GROSSEN FRIEDENS“

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In seinem Heim in Kiisnacht am Ziiricher See ist, sechsundachtzig- jcihrig, Carl Gustav Jung gestorben: Es gibt ganz wenige Europder un- serer Zeit, deren Denken weit liber Europa hinaus einen Einflufl ge- wann, wie das nimmermiide For- schen und Betrachten dieses Schweizers. Amerika, Japan, Indien haben sich ihm erschlossen, und er selbst ist in seinem langen Leben immer weiter und tiefer ausgeschrit- ten. Nichts Menschliches, nichts Seelisches war ihm fremd: die Mythen und Mdren der Friihzeit, das seelische Gut verschollener und entlegener Volker, die Spekulation grofler und abseitiger Geister in alien Weltreligionen und am Rande von ihnen: alles hat ihn cngezogen, was in der Seele Bild, Gestalt wurde.

Von der Romantik im besten Sinne des Wortes kommt er her, er hat sich aber nicht in ihre Trdume und Angste verloren, sondern mit dem kiihlen Blick des Schweizer Arztes dies sein deutsches Erbe zu meistern versucht. Die zeitweise heftige Reaktion in ihm gegen ,,die Deutschen" zeigt, wie sehr dieser Kdmpfer urn die Ehe der gegen- satzlichen Elemente in der eigenen Brust zeitlebens ringen muflte: was nach seiner eigenen Lehre ganz in Ordnung war . . .

Von der deutschen Romantik her kommt sein Groflvater, von deni er den ganzen Namen hat, in die Schweiz: Dieser altere Carl Gustav Jung war ein hochbegabter Chemi- her, hatte in Berlin seine Laufbahn begonnen; als nationaler Romanti- ker und Teilhaber am Wartburgfest hatte er sein Amt verloren. Alexander von Humboldt vermittelte dem Fliichtling aus Preuflen eine Profes- sur fiir Anatomie und allgemeine Medizin in Basel. Vom Groflvater- Arzt und vom Vater-Pfarrer (dieser, Paul Jung, war in einem Vorort Basels protestantischer Arzt) hat der Enkel und Sohn Carl Gustav Jung die beiden Pole seines Lebens und Arbeit ens uberkommen: Er ist ein Arzt geworden, der schon durch sein Leitmotiv, „lch mbchte den Menschen he!fen, wenn sie leiden", immer wieder auf den anderen Pol in seiner Brust verwiesen wurde, den des Seelsorgers.

Vielleicht gibt es im westeuro- paischen Denken unseres Zeitalters keinen mdchtigeren, einfluflreiche- ren Gegner des Christentums als diesen Mann, der die reichen

Schatze des christlichen Geistes- gutes und die Bildungsmacht christ- licher seelischer Erfahrungen kaunte und schatzte, wie wenige seiner Zeitgenossen. Nicht zuletzt ist hier seine „Antwort auf Hiob", 1952, zu nennen.

Die Hauptvorwiirfe Jungs an die Adresse des Vulgarchristentums und an die Adresse der christlichen Kirchen und Konfessionen itn Heute lassen sich vielleicht so ansagen: Jung wirft diesem Christentum vor, daft es der Grope und GefUhrdung des Menschen nicht gerecht wird, dap es dualistisch, hart und unge- recht allzu viele Elewente in der Seele unterdriickt, verdriingt und auszuscheiden bemiiht ist und so kleine Menschen eines ,,kleinen Friedens", eines Abwehrfriedens, erzieht und dergestalt unfahig ist, den ,,Gropen Frieden" zu schaffen, in der Begegnung des Einzelnen und der Vblker, in der Kownunikation der Weltreligionen und WeltwUchte, im ZusammenstoP der Konflikte auf hochster und niederster Ebene, in der Brust der Person, auf den Schlachtfeldern der Geschichte. Dieser ,,GroPe Friede", dessen Ele- mente C. G. Jung im Sagengut alter Volker, im Weistum der Asiaten und Afrikaner, in der Alchemie und Geheimwissenschaft der Gnosti- ker alter Zeiten erspiirt und in sei- nem riesenhaft anschwellenden Werk mit Hilfe ausgezeichneter Schiiler und Mitarbeiter darstellt, besteht in der hochkomplexen Schwebelage der „dunklen“ und ..lichten" Elemente in der Brust des Menschen, wobei der „Schatteh“ (der, wie Jung meint, allzu lange verteufelt warden ist) ebenso wich- tig ist fiir die Persottsbildung wie der lichte, helle Engel.

Dieses Ringen Carl Gustav Jungs um den ,,GroPen Frieden", um seine Wahrnehmung in der Weisheit, Heilkunst, Wissenschaft, alter Zeiten, alter Religionen, nicht zuletzt in der Dichtung, macht die geschichtliche Bieu- tung seiner eigenen Persbniich- keit aus und charakterisfert am besten seinen historischen Standort.

In der geistigen Nachfolge der heilenistischen Denker (von Philo von Alexandrian und Dionysius Areopagita hat er seinen Grund- begriff „Archetypus"), in Europa dann als Erbe eines Nikolaus von Cues, Paracelsus und nicht zuletzt der schwdbischen „gottseligen Na- turphilosophen" des 17. und 18. Jahrhunderts, hat Jung sich um eine Rettung, um eine Befrie-digung des Menschen bemuht, in der Integration alter ihm zugdnglichen Er- losungsbilder, Erldsungslehren in Orient und Okzident. Es war seine Uberzeugung, dap der Mensch dem Sog der Tiefe, dem Wahn und den Wahnbildern, dem HaP und einem tiefen Drang zur Zerstbrung und Selbstzerstdrung nicht verfallen muP: dies aber schien ihm nur moglich, wenn zeitlebens die .Aus- einandersetzung, ja die Begegnung mit dem Dunklen, Bbsen, den „Mdchten" durchgehalten wird. Es liegt etwas Titanisches und etwas Tragisches um die Stirn dieses so friedsam scheinenden Greises in Kiisnacht, der es wagte, mit alien Teufeln um Seele und Rettung des Menschen zu kampfen..

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