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Den Zinses-Zins nicht mystifizieren

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Was sagt ein österreichischer „Advocatus diaboli”, dem diese Rolle „leicht” fällt, zu den Hinkelammert-Thesen auf Seite 2?

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Was sagt ein österreichischer „Advocatus diaboli”, dem diese Rolle „leicht” fällt, zu den Hinkelammert-Thesen auf Seite 2?

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Ich habe in meiner Jugend ein Land bereist und kennengelernt, dessen Menschen zum Großteil in Lumpen gingen, eine schreckliche Seuche hatte fünf Prozent der Bevölkerung hinweggerafft, Ausländer, die so taten, als gehöre das Land ihnen, verlangten die Begleichung alter Bechnungen, dafür wurden Brennstoffe geliefert, während die Menschen im Land froren. Importe waren praktisch unmöglich, die Landeswährung war international wertlos, alles was produziert wurde und einigermaßen Exportqualität hatte, ging ins Ausland und wurde im Inland nicht einmal angeboten. Die Menschen, wenn sie überhaupt Arbeit hatten, schufteten für einen Hungerlohn 60 Stunden in der Woche. Das Essen der Kinder waren milde Gaben, aus zerbeulten Eßgeschirren gelöffelt.

Dieses Land, das ich recht gut kennengelernt habe, war Osterreich vor 50 Jahren. Wer einmal aus dem Blechnapf fraß, fühlt Solidarität mit jenen, die es heute tun müssen. Aber er bricht auch nicht gleich in Tränen aus, wenn ein Befreiungstheologe oder ein Entwicklungshelfer mit der Sammelbüchse vor der Tür steht. Hingegen beobachtet er mit Interesse und Anteilnahme die zahlreichen Theorien, die zur Erklärung und Lösung der Probleme der Dritten Welt angeboten werden.

Kapitalmarkt die Wurzel allen Übels?

Als Wirtschaftsjournalist bin ich vor allem auf Österreich konzentriert und gewiß kein Lateinamerikaexperte, obwohl Entwicklungsfragen immer wieder meinen Schreibtisch kreuzten. Ich kann die mir von den Veranstaltern zugewiesene Rolle des Advacatus diaboli also unbefangen wahrnehmen, und ich empfinde sie als eine leichte Rolle. Ich sehe in den Worten des Hauptreferenten und in seinen Werken den redlichen, aber untauglichen Versuch, die mannigfachen und keineswegs einheitlichen wirtschaftlichen und sozialen Probleme, das Weh und Ach der Völker der Dritten Welt und insbesondere Lateinamerikas monokausal auf einen Punkt zurückzuführen.

Das kapitalistische Geld und der Kapitalmarkt mit seinen Zinsen und Zinseszinsen, das ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe, die Wurzel allen Übels. Ich fürchte, daß die Dämonisierung des Geld Verleihes und der daraus folgenden Komplikationen die Sicht auf andere Problemfelder und mögliche Ursachen, etwa der ersten freiwillig genommenen und begehrten Kredite, verstellt. Und die geistige Flucht aus einem Problemchaos erscheint am leichtesten durch den Ruf nach einer neuen Gesellschaft, die das Alte und damit auch die alten Probleme revolutionär über Bord wirft und an ihre Stelle nur die Hoffnung auf, eine schöne neue Welt zu setzen vermag.

Das erscheint mir besonders gefährlich, wenn die neue Weltordnung, wenn ich es aus Ihrem Buch richtig entnommen habe, in Richtung auf eine sozialistische Gesellschaft geht, deren Untauglichkeit für die Praxis gerade in den letzten

Jahren hinlänglich bewiesen wurde. Man muß da schon ins Detail gehen, zum Beispiel in die Schulden- und Zinsenwirtschaft. Der Streit um die Gerechtigkeit von Zinsen ist Jahrtausende alt, auch Aristoteles hatte schon eine originelle Begründung für ein Zinsverbot. Im Gegensatz zu Schafen und Ziegen bekämen Metallmünzen keine Jungen und könnten daher auch keine Zinsen abwerfen. Weder die aristotelische Zinstheorie noch das islamische Zinsverbot und jenes des kanonischen Rechtes haben sich jedoch in der Praxis gehalten. Wie sieht es mit der Praxis im 20. Jahrhundert aus der Warte eines akademisch nicht legitimierten Kapitalisten aus?

Grosso modo ist in unseren Breiten, aber auch weltweit die Wirtschaft verschuldet, während die privaten Haushalte mit ihren Sparbüchern und Anleihedepots die Geldverleiher sind. Dazwischen stehen die Banken, sie nehmen von den kleinen Sparern und großen Kapitalisten Einlagen entgegen, und zwar durchaus nicht als ewige Einlagen, sondern in aller Regel befristet beziehungsweise von beiden Seiten kündbar. Und die Banken versprechen den Einlegern dafür meist fixe Zinsen. Das solcherart gesammelte Geld wird gegen höhere Zinsen etwa

an den Staat, an private Häuslbauer oder an die Industrie weitergereicht. Von dieser Zinsspanne zahlen die Banken den Einlegern die versprochenen Zinsen, bilden Reserven für etwaige Pleiten von Kreditnehmern und zweigen ihre Kosten und vor allem ihre Gewinne ab. Die Einleger, bei uns in erster Linie die Sparer, sind die einzigen, die in diesem Spiel ein wirklich arbeitsloses Einkommen, das von manchen als grundsätzlich verwerflich angesehen wird, beziehen. Die Häuslbauer und die Industrie, die sich verschuldet haben, müssen besonders hart arbeiten, um nicht nur zu überleben und einen Gewinn zu machen, sondern auch Zinsen und Kapital pünktlich zurückzahlen zu können. Das ist die Peitsche der beginnenden Schuldknechtschaft, die das Wirtschaftswachstum ankurbelt, da die Schuldner ja für zwei arbeiten müssen, für sich und für die Sparer oder sonstigen Geldverleiher, die ihre arbeitslosen Einkommen damit begründen, daß sie auf den sofortigen Konsum ihrer Ersparnisse verzichtet haben und für diesen Konsumverzicht durch Zinsen entlohnt werden wollen.

Obwohl es etwas kostet, reißt sich die Wirtschaft um Kredite. Die österreichische Industrie hat 60, vor einigen Jahren sogar 80 Prozent Fremdkapital in ihren Büchern. Sie hofft, mit dem fremden Geld ihre Geschäfte so auszuweiten und von den zusätzlichen Gewinnen nicht nur die Schulden bedienen zu können, sondern auch selbst höhere Gewinne einzu-streifen. Wenn nicht, wird eine „Konsum”-Pleite daraus.

Wer die Zinsen schuldig bleibt, weil seine Rechnung nicht aufgeht, wird entweder versteigert, wie Teile des „Konsum”, oder es gelingt ihm, einen neuen Kredit zur Begleichung der Zinsen zu bekommen, für die natürlich wieder Zinsen, die ominösen Zinses-Zinsen, anfallen, weil ja auch die Sparer ihre Zinsen für den zusätzlichen Kredit sehen wollen. Bis hierher finde ich eigentlich nichts Verwerfliches im kapitalistischen Geld-verleihsystem. Ich nehme an, daß Sie ein Sparbuch haben. Es beruht auf Freiwilligkeit und hält die Wirtschaft in Schwung. Ich weiß auch nicht, warum dieses System aufgegeben werden sollte. Aber in Lateinamerika ist offenbar alles anders. Da werden Darlehen zum Danaer-Geschenk, Zinsen zur Ausbeutung und Zinses-Zinsen zum Verbrechen. Geld, das normalerweise keine Ma-scherln hat, wird plötzlich buchhalterisch gebunden.

In Ihrem Buch werden Exporterlöse Importen und Kapitaldiensten gegenübergestellt. Wenn es sich nicht ausgeht und zusätzliche Kredite nötig werden, wird ex cathedra behauptet, diese zusätzlichen Kredite dienten dem Kapitaldienst, obwohl sie laut Grafik genausogut gegen importierte Autos und Kli maanlagen verrechnet werden könnten. Zusätzliche Kredite wären also überflüssig, wenn kein Kapitaldienst geleistet werden müßte. Das hätte der „Konsum” sich auch wünscht.

Es wird zu einem Zahlungsstreik der Schuldner aufgerufen, um die Gläubiger zu erpressen, ganz kühl. Eine riesige internationale Erpressungsaufforderung. Wenn Schulden-titel aufgrund der schlechten Bonität der Schuldner in ihrem Wert auf 50 Prozent fallen, wie es etwa bei südamerikanischen Titeln der Fall ist, werden diese 50 Prozent als fiktive Schuld bezeichnet, nur weil sie nicht einzutreiben ist. Es wird auch die Existenzberechtigung abgesprochen und Versuche, diesen nicht eintreibbaren Teil auf irgendwelchen Umwegen doch noch flüssig zu machen, werden als ungerechtfertig bezeichnet, da ja sie ohnehin schon früher nicht da waren. Es ist etwa so, wie wenn man irgendjemandem das Portemonnaie zieht und wenn er es zurückhaben möchte, sagt, warum, du hast ja keines gehabt. Diese fiktive Schuld ist eine sehr kühne Konstruktion, indem man die vermutlich notwendige Abschreibung dieser Schuld durch die Gläubiger nachträglich als nicht existente Schuld interpretiert und den Versuch, diese Schuld sehr wohl in irgendeiner Form wieder zu bekommen, als unredliches Verlangen klassifiziert.

Geistiges Eigentum wird zum gemeinsamen Erbe der Menschheit erklärt, das man kostenlos erben möchte. Der Devisenabfluß durch Gewinntransfer ausländischer Unternehmen wird beklagt, wenn die Gewinne aber durch „dead equity swaps” im Land belassen werden, was man zunächst so wünschte, um diesen Devisenabfluß hintanzuhalten, ist das auch wieder nicht recht. Wo es doch eigentlich die Erfüllung eines gehegten Wunsches ist, daß die Gewinne ausländischer Unternehmen im Land bleiben und dort reinvestiert werden. Wenn es aber einer tut, macht er es auch wieder nicht recht. Weil auf diese Art Schulden beglichen werden, die ohnehin schon fiktiv waren und daher gar nicht mehr zu begleichen sind.

Eine sehr kühne Konstruktion, ich bewundere den Mut der Fürsprecher Lateinamerikas, sich diesen Sonderfall so darzustellen und statt konkreter Ursachenforschung eine Systemänderung zu fordern, die natürlich das einfachste ist bei jeder Forderung. Diese Vereinnahmung simpler fmanz-technischer Instrumente, wie zum Beispiel die Automatik des Zinses-Zinses (daß natürlich, wenn die Zinsen nicht bezahlt werden und dadurch ein zusätzlicher Kredit notwendig ist, die Gesamtschuld steigt beziehungsweise Zinses-Zins zustande kommt, kann jeder an zehn Fingern nach vollziehen, das ist ein reines Rechenexempel) - das zu mystifizieren, ins Mystische zu bringen, halte ich für sehr gewagt.

Das grenzt an Blasphemie

Der Salpeter - ich nehme an, Lord North hat ihn exportiert. Ich nehme auch an, die chilenische Lohnquote reicht sicher nicht an unsere 70 Prozent heran, aber ein Teil der Erlöse wird sicher an die Beschäftigten geflossen sein dank des Organisationstalentes und des Know-how, das Lord North hereingebracht hat, das ist ja auch etwas wert. Das wird immer als selbstverständliches Gemeingut der Menschheit empfunden, aber ich glaube, daß sehr wohl Know-how und Organisationskunst, die Kunst, Wertschöpfung zur organisieren, durchaus ein Wert ist, den man respektieren und nicht vom Tisch wischen sollte.

Wenn man das „Vater unser”, das Millionen gläubiger Menschen täglich beten, und eine mehr oder weniger gelungene Textänderung dazu mißbraucht, daraus eine paranoide Wirtschaftstheorie zu entwickeln, und behauptet, daß „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern” je von der Mehrheit der gläubigen Christenheit in Bezug auf ihr Kontokurrentkonto gesehen wurde, so grenzt das an Blasphemie.

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