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Wettlauf um einen Platz an der Sonne

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„Morgen soll es mir besser gehen”: Unser Geld- und Wirtschaftssystem lädt uns ein, fortgesetzt Wechsel auf die Zukunft zu ziehen. Im Wettlauf um morgiges Glück, verkümmern unsere Beziehungen schon heute.

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„Morgen soll es mir besser gehen”: Unser Geld- und Wirtschaftssystem lädt uns ein, fortgesetzt Wechsel auf die Zukunft zu ziehen. Im Wettlauf um morgiges Glück, verkümmern unsere Beziehungen schon heute.

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Haben Sie schon im Lotto gewonnen? Wenn ja, brauchen Sie nicht weiterzulesen, denn dann gehören Sie zu den Gewinnern unseres Wirtschafts-, ist gleich Geld-, ist gleich Zinssystems. Wie jene 117, die im vorigen Jahr einen Lotto-Sechser gemacht haben. Da der durchschnittliche Gewinn bei einem Sechser 8,6 Millionen Schilling beträgt, bewegen sich diese Millionäre in der Zinsspirale nach oben. Sie bekommen, wenn sie ihr Geld gut angelegt haben, bereits fette Zinsen und für diese wieder Zinsen, sodaß ihr Vermögen schneller wächst als die Inflation und das, was an Kapitalertragssteuer anfällt. Ihre Bank kann Ihnen nach einer Formel ausrechnen, wieviel Ihr (gut angelegtes) Geld bei welchem Zinssatz wie stark wachsen wird. Mit etwa drei Millionen kommen Sie hinein in die Zinseszins-Progression, so wie etwa zehn Prozent der Bevölkerung.

Als Gewinner stehen Sie natürlich in direkter, wenn auch nicht gleich ersichtlicher Beziehung zu denjenigen, die Ihre Zinsen bezahlen. Haben Sie nämlich noch keinen Sechser gemacht, noch nicht geerbt oder sonstwie zu Geld gekommen; sind Sie vielleicht sogar einer jener Mitmenschen, die unvorsichtigerweise für den Kauf oder die Miete einer Wohnung einen Kredit aufnehmen mußten? Dann gehören Sie zu jenen bedauernswerten zirka 80 Prozent der Bevölkerung, die jene Zinsen bezahlen, die die zehn Prozent immer reicher machen.

Denn wo es Gewinner gibt, muß es auch Verlierer geben. Ökonomisch gesprochen: Die Zinsen des einen sind die Schulden des anderen. Sie sind also eine(r) von jenen, die arbeiten, um den Lottoschein ausfüllen zu können, der Ihnen die bei eins zu 8,145 Millionen liegende Chance bietet, in Zukunft zu jenen zu gehören, an deren Zinserträgen Sie jetzt arbeiten, um den Lottoschein ...

Denn wo es Gewinner gibt, muß es auch Verlierer geben

Wahrscheinlich sagen Sie jetzt: Halt, so einfach ist das nicht. Gut, denken wir positiv. Sie haben die schon bei eins zu 45 liegende Chance, einen Dreier zu machen, genützt, geben Ihr Geld einer Bank, damit es arbeitet, um später mehr Geld zu bekommen, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Die Bank verleiht Ihr Geld für Zinsen an ein Unternehmen, sagen wir eine Schifabrik, weil die, um konkurrenzfähig zu bleiben, neue Maschinen braucht. Die Zinsen, die die Schifabrik der Bank zahlt, muß Sie natürlich verdienen: durch höhere Preise. Sie fahren ja nicht zufällig Schi, oder?

Versuchen wir es anders: Ihre Bank investiert Ihr Geld in Sachwerte, sagen wir in ein Wohnhaus. Die Bank, und Sie mit ihr, spekulieren damit, daß dieses Haus in ein paar Jahren real (also nach Abzug der Inflation et cetera) mehr wert ist als heute, und deswegen „der Markt” auch höhere Mieten beziehungsweise Preise für die Wohnungen hergibt. Es ist eine Hypothek auf die Zukunft. Die Wertsteigerung der Immobilie muß höher sein als die Inflationsrate und auch die Belastung mit Ihren Zinsen wettmachen. Sie sparen doch nicht zufällig

auf eine Wohnung oder ein Häuschen für sich oder Ihre Kinder?

Sie sitzen noch immer vor Ihrem unausgefüllten Lottoschein und halten sich für einen rational denkenden Menschen? Sagen Sie ja, denn sonst dreht sich die Aufwärtsspirale weiterhin ohne Sie. Machen Sie Ihre Kreuzchen und warten Sie wieder auf den großen Gewinn, der Ihnen jene Zinsen bringen wird, die Ihnen die Arbeit erspart, von deren Lohn sie jetzt Ihren Lottoschein gekauft haben. Am Sonntag ist wieder eine Ziehung und die Chance, daß Sie dabei sind, liegt, wie gesagt, bei eins zu 8,145 Millionen.

Die durchschnittlich 2,3 Lotto-Millionäre pro Woche werden Ihr Geld gut anlegen. Für die Zinsen, die die frisch-, aber auch die altgebacke-nen Millionäre erhalten, werden die Preise weiter steigen müssen. Damit werden auch die durchschnittlich 25 Prozent, die von den Waren-Preisen für Zins-Zahlungen aufgewendet werden, noch steigen. Im kostenintensiven Wohnbau ist der Anteil jetzt schon viel höher. Wegen des Preisauftriebes (auch Inflation genannt) für Waren und Dienstleistungen muß natürlich auch Ihr Gehalt wachsen, sonst können Sie sich das alles nicht mehr leisten. Dafür werden Sie kräftig in die Hände spucken und mehr leisten müssen, damit Sie den Lottoschein für nächste Woche noch ausfüllen können.

Sie leben immer in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Fällt Ihnen etwas auf? Gleichgültig, ob Sie einen Kredit offen haben und den samt Zinsen abzahlen müssen, oder ob Sie ein bißchen etwas auf der Seite haben und dafür Zinsen bekommen, Sie leben immer in der Hoffnung auf eine Zukunft, in der Sie es besser haben als jetzt und als andere. „Wer den Lottozettel ausfüllt und auf die Millionen wartet, rechnet mit nichts anderem als mit ungerechter Verteilung”, schrieb der Schweizer Autor Peter Bichsei 1981 in dem Essay „Der abwesende Krieg”. Lotto

spielen ist der sinnfälligste Ausdruck unseres Wirtschafts-, ist gleich Geld-, ist gleich Zinssystems. Mit Ihrem Lottoschein füllen Sie Woche für Woche einen Scheck für die Zukunft aus, die Sie damit jenen ermöglichen, die schon gewonnen haben.

Wenn Sie sich jetzt ein wenig wie ein Dritte-Welt-Land fühlen, liegen Sie richtig. Dem ergeht es nämlich genauso wie Ihnen. Auch die Menschen dort hoffen seit vielen Jahren, in einigen Jahren dem Lebensstandard der Industrienationen näherzukommen. Tatsächlich entfernen Sie sich aber immer weiter davon. Und zwar, weil die Zinsenlast sowohl der Kredite, die sie bei den reichen Nationen aufgenommen haben, als auch der Waren, die sie den Industrienationen für Investitionen abgekauft haben, immer drückender geworden ist. Nicht die Schulden sind ihr Problem, die hätten sie längst abgezahlt, sondern die Zinsen.

Die Zinsbelastung durch die österreichische Staatsverschuldung ist auf 90 Milliarden Schilling pro Jahr angewachsen, sodaß jeder der zirka drei Millionen Haushalte über die Steuern fast 30.000 allein an Zinsen zurückzahlen muß. Bei 15.000 Schilling arbeiten Sie also etwa drei bis vier Monate für die Zinsen der Warenpreise und etwa ein bis zwei Monate für die Zinsen der Staatsschulden. Das sind dann jene fetteren Zinsen, die Ihnen Ihre Bank verspricht, und die zur wundersamen Geldvermehrung geführt haben, die bewirkt, daß die einzelne Banknote immer weniger wert ist. Denn Sie können davon nicht das gleiche kaufen, wie noch vor ein paar Jahren. Am Gewinn nehmen immer nur wenige teil, an der Inflation hingegen wieder alle.

Aber irgendwo muß es doch ein Ende geben, werden Sie vielleicht sagen. Richtig, sieht man sich die Geschichte an, dann folgt das System immer demselben Schema: Das Steigen der Zinsen vermehrt die Geldmenge, die bringt eine galoppierene Inflation, also Geldentwertung, und der folgt die Geldvernichtung: Zuerst meist in Form von Banken- oder Börsen-Cras-hes, bei denen auch einige der früheren Gewinner verlieren, oder gleich in Form von Kriegen. So gesehen, müßte statt der Unterschrift, folgende Warnung der Nationalbankpräsidentin auf jedem Geldschein aufgedruckt

sein: Geld, das durch Zinsen vermehrt wird, kann das Leben der Gesellschaft gefährden. Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Religiöse Menschen wissen das seit Jahrtausenden. Denn nicht nur im Europa übel beleumundeten Christentum, sondern auch im dortzulande hochangesehenen Buddhismus sowie in sämtlichen Weltreligionen gab es theoretisch Zinsverbot.

Daß die Geldvermehrung auch Probleme schafft, ist auch Ihrer Bank aufgefallen. Seither arbeitet sie fieberhaft an der Lösung des Problems. Wie? Indem sie das Geld allmählich verschwinden läßt. Freilich müssen Sie mitspielen bei dieser monetären Alchemie. Statt immer mehr Banknoten bekommen Sie ein handliches Kärtchen. Mit diesem können Sie Ihren Lottoschein mit einem Geld bezahlen, das Sie vielleicht einmal haben werden - wenn nichts Unvorhergesehenes passiert. Damit wird die Verbindung zu Ihrer Bank noch enger. Sie sollten Ihr deshalb auch nicht vorwerfen, daß Sie es so macht wie Sie. Sie spekulieren doch auch - mit der Zukunft: Kaufe jetzt und zahle später. Und nur durch Spekulation erwirtschaftete höhere Gewinne kann Sie Ihnen die fetteren Zinsen zahlen. Pech ist nur, wenn die Zukunft pleite macht. Aber Sie hatten ja keine Wertpapiere bei der Londoner Barings Bank oder kein Sparbuch bei der Grazer BHI Bank. Na eben!

Und seien Sie ehrlich, das Kärtchen hat doch enorme Vorteile. Sie begrüßen doch auch, sich nicht mehr für Geld an der Bank-Kassa anstellen zu müssen. Das spart Zeit, Nerven und damit Geld. Insbesondere jenes der Bank, die sich so ein paar Angestellte erspart. Das kommt Ihnen wieder zugute, weil Ihre Bank wieder konkurrenzfähiger ist. Noch dazu befreit Sie das vom Schein befreite Geld vom schlechten Gewissen, wenn Sie etwa einem echten geldlosen Menschen, also einem Bettler, oder auch einem Freund sagen: Sorry, ich kann nichts hergeben, ich habe nur meine elektronische Geldbörse dabei. Ihre Shopping-Tour bleibt ungestört. Alles geht reibungsloser, rascher vor sich. Mit Ihrem Kärtchen sind Sie weltweit der völligen Unabhängigkeit von der Willkür anderer Menschen wieder ein Stück näher gerückt.

Sie haben sich sicher noch nie über die wachsende Kälte in unserer Welt beklagt?

Sie haben sich in letzter Zeit sicher nicht einsam gefühlt? Sie finden auch nicht, daß alles immer unpersönlicher, anonymer wird. Sie haben sich auch nie der Ansicht angeschlossen, daß die Politik immer eintöniger und farbloser wird, weil die Politiker sämtlicher Parteien dem wirtschaftlichen Turmbau zu Babel huldigen? Sie haben sich sicher noch nie über die wachsende Kälte in unserer Welt beklagt? Sie haben auch nie das Gefühl gehabt, immer weniger echte Freunde zu haben? Denn Sie haben ja Ihre immer enger werdende Beziehung zu Ihrer Bank. Und die ist ja auch viel beständiger als die zu Ihrem derzeitigen Partner.

Peter Bichsei schrieb am Schluß des erwähnten Essays: „Ich kann mir vorstellen, daß die Welt so, wie sie ist, weitergehen wird, daß wir sie halten können. Die Frage ist nur, ob wir das zum Beispiel als Christen oder als Humanisten oder als Liberale oder als Sozialisten oder als Menschen und Mitmenschen - ob wir das wollen und ob wir das verantworten können. Die gerechte Welt ist ein Langzeitprogramm.”

Viele Daten und Fakten verdankt dieser Beitrag der ORF-Sendereihe „Geldfrißt Welt”, die auch als Kassettenedition erschienen und um 210 Schilling zu erwerben ist

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