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Der fl ammende Engel

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Er kommt aus dem Kinosaal in den Glanz des Foyers. Er fühlt ein Lächeln in seinen Lippen, fühlt sich mit diesem Lächeln unversehrt und stark. Mit jedem Schritt geht er aus der Verwandlung hinaus, in der er sich befand. Ueber den Köpfen vor sich sieht er die Finsternis der nächtlichen Straße, das schwarze Loch des Ausgangs: dort muß er hindurch. Er klammert sich mit den Blicken an die Gestalten aus Papier und Farbe an den Wänden.

Die Woge der Menschen nimmt ihn mit zu dem Abgrund, der draußen auf ihn wartet. Das Lächeln nimmt ab, sein Mund wird kalt, seine Bücke tasten über die Gesichter neben ihm, die jetzt sehr fremd sind.Zwischen zwei Köpfen erkennt er in einem Schaukasten das Bild des katzenhaften Weibes, das er diesen Film lang liebte. Im Dunkel des Kinosaales hatte er sich fallen lassen. Abgespalten von seinem Leib war sein innneres Ich hinaufgestiegen zu ihr, brennend in einer wilden Sehnsucht. Jetzt kehrte es zurück in die Wirklichkeit dieses Leibes, Schritt für Schritt, während das drohende Maul des Ausgangs auf ihn zukommt. Es stößt sich an den Wandungen des Fleisches, dieses Ich, er hat rasende Schmerzen, während es sich einbohrt, sich lautlos einzwängt in seinen Körper, die Rückgeburt aus den Spiegelsälen des Traums in die Wirklichkeit, die unwirklich ist.

Er wehrt sich gegen das Eindringen des anderen Ichs, das frei war, das er nie wieder hineinzwingen lassen möchte in den alten Kerker, das schweben soll über ihm in der Freiheit der Umarmung, im Spiegelsaal, die seine eigentliche Wahrheit sind.

Das blasse Viereck der Leinwand hat sie verschlungen als es hell wurde im Kinosaal, die Einsamkeit ist wieder da, das blasse Viereck hat die Geliebte seiner Gedanken verschlungen, keine Spur von ihr ist mehr vorhanden, nur in seinem Inneren steckt zwischen den blutumsickerten Nervensträngen ein glitzernder Spiegelsplitter mit ihrem Bild. Das ist sie, wußte er im Saal, während er bei ihr war wußte er: sie, in der ich aufgehe, wie ich bin, mit allem, was ich bin und was in mir ist. Das ist sie, die auf mich wartet, auf mich mit meiner Kraft, auf mich mit meiner Begierde, auf mich mit meiner Angst, mit meiner schmerzhaften Lust mich in ihr zu bergen, zu verbergen in der mütterlichen Schale, in der großen Stille, in der Gestilltheit aller Spaltungen, im windstillen Herzen Gottes. Sie ist Dienerin, sie ist der Mund der Liebe, die mächtige Mutter, der flammende Engel, der meine Not wegbrennt. Sie ist der heilende Wein, der milde Wein, der die unendlichen Räume zwischen den Sternen erfüllt, die unendlichen milden Räume, in denen die Sterns ausruhen, von der brüllenden Not ihrer Getrenntheit vom Mutterschoß. Ihre Augen sind auf mich gerichtet, sie wartet auf mich, sie wartet auf mich in dem Spiegelsplitter, der in mir ist.

Er reißt sich los von dem Bild des Mädchens: von dem Bild seines jungen Weibes im Schaukasten, er wird losgerissen von ihr, von ihr, die jetzt ihm gehört, die er zum Altar geführt hat in einem Sekundenteil als er im Saal bei ihr war. Die Menschen reißen ihn los von seinem Weib und er kann ihnen nicht sagen, daß sie ein Verbrechen begehen: weil die Orgel schon spielte, weil die unsichtbare Orgel gewaltig spielte, während die Worte des unsichtbaren Segens wie weiße Vögel im weichen Dunkel unter dem Spitzbögen waren.

Er steht schon im Portal, losgerissen von der Wahrheit des Traums, schwankend unter der geheimnisvollen Last der Lüge seines Daseins. Die Wahrheit hat sich zusammengezogen in die Winzigkeit des Spiegelsplitters, so hat sie Platz im Kerker, in der hoffnungslosen Tiefe des Kerkers, er aber denkt, vieleicht ist der glitzernde Splitter in seiner Kleinheit, in dieser Staubkornkleinheit der Same für die Erlösung, wenn er unter einer anderen Sonne aufblühen wird, später.

Er steht schon im Portal, das ausgekleidet ist mit Spiegeln, mit anderen Spiegeln als jenen seines Spiegelsaales, mit Spiegeln, die vergiftet sind, krank vor Bosheit. Er sieht sich im Spiegel, sieht sein Gesicht in dem vergifteten Spiegel, sein zerfleischtes, sein von einer unwirklichen glühenden Klaue zerfetztes, sein in einer unwirklichen Szene geschändetes Gesicht, diesen bunthäutigen, verbrannten Totenkopf, diese lügenhafte Schimäre, die ihm jetzt höhnisch entgegenstarrt. Es drängt ihn, zu schreien. Das bin nicht ich, drängt es ihn zu schreien, ich bin anders, schreit es in ihm, ich bin der andere, der jetzt seinen gesunden Mund auf den Mund des schönen Mädchens legt. Ich küsse mein Weib in dem Spiegelsplitter, in dem wir uns vermählt haben zwischen den blutumsickerten Nervensträngen, die unsichtbare Orgel hat schon gespielt, die weißen Vögel sind schon geflogen, ich berge die Lüge dieses Totenkopfes in ihrem Schoß, sie hat mich aufgenommen, ihre Schönheit breitet sich aus über mich, hüllt mich ein wie ein Mantel, nimmt mich auf in den Mund der göttlichen Liebe, in dem wir bewahrt sind wie ein Atemzug, der auf seine Zeit wartet.

Der Menschenstrom hat ihn fortgepflückt von dem Spiegelbild seines -verratenen Gesichtes, er steht auf der Straße, und es ist Nacht. Warum weinen Sie? fragt eine Stimme. Er fährt herum, erschrocken. Ich weine ja nicht, will er sagen, denn er wußte nicht, daß er weinte. Vor ihm ist ein Gesicht, eine Fratze wie seine, nur die Augen sind gut. Ich wußte es nicht, sagt er. Die guten Augäpfel sind in wundes Fleisch gebettet, in Fleisch, das unter einer durchsichtigen Hautart wund und böse ist. Das Kinn dieses Gesichtes ist weggerissen von der gleichen glühenden Klaue wie meines, denkt er und sieht, daß auch die Ohrmuscheln fortgeschmolzen sind. Abgeschmolzen wie farbiges Wachs im Feuer, weggeschmolzen wie Wachs in einer von Flammen beleuchteten Nacht in diesem Krieg, denkt er.

Aus den Augäpfeln dieses Gesichtes sieht er einen Ström dringen, den Strom des milden Weines, der die unendlichen Räume zwischen den Sternen erfüllt, des Weines, der die Lüge fortspülen wird, des machtvollen Weines, der den Verrat zu tilgen begonnen hat, den heilenden Strom, der sein Gesicht wieder makellos machen wird, bis es übereinstimmt mit dem anderen Ich, mit dem eigentlichen Ich, das in dieser Sekunde tief Atem holt in seinem Gefängnis.

Das Gesicht in dem Spiegelsplitter, der zwischen den blutumsickerten Nervensträngen steckt, sieht jetzt aus wie ihr Gesicht, sagt er. Die grauenhafte Grimasse des Lächelns, mit dem die junge Frau ihm antwortet, ist ihm nicht grauenhaft. Er versteht durch die Hieroglyphen der Lüge hindurch die Wahrheit zu entziffern. Er faßt nach der Hand der Fremden, die ohne Handschuh ist und so schön, daß er ein schmerzhaftes Zerren im Herzen spürt, als er sie an seine verbrannten Lippen führt.

Die Orgel wird spielen, der Altar wird glitzern wie ein Kristall mit vielen Facetten, denkt er jetzt hoffnungsvoll, wir tragen das Zeichen, daß wir zusammengehören. Und er hebt seine Augen und forscht in ihrem Gesicht, ob er eine Antwort findet auf seine schnellen Gedanken.

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