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Der Jahreskreis

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Du meinst, das Jahr sei müde geworden und das Leben schliefe? Es schliefe, so schreibst Du mir, unter der verharschten Schneedecke und unter dem weißsilbernen Rauhreif unter den raschelnden Buchenblättern des Hügelwaldes und unter dem dielten Blankeis des Mühlteiches. Kalt und scharf bläst der Wind über das verfrorene Land und lang sind die Nächte in dieser Zeit, sie umhüllen mit Dunkelheit und Nebel die kurzen Tage des Winters. Ich weiß, daß Du den Winter nicht leiden magst, weil er die Sonne verbannt und sie nur zum rötlichen Glühen bringt, wo sie im Sommer so heiß brannte. Ich weiß, daß Du frierst, wenn die Erde hartgefroren ist und der Wald nur mehr ein graubrauner Schatten vor dem düsteren Himmel, wo er im Frühling so hochzeitsgrün leuchtete. Die Alleebäume stehen kahl an den Straßen, die Rosen und Astern verkümmern im Frostwind und der eiskalte Nebel steht tagaus, tagein über den Bächen und Flüssen.

Aber tot ist die Welt nicht, auch in diesen Wochen nicht. Du mußt es am Meisenflug merken, wenn Du durch die Gärten gehst, am Krähenziehen über den Flüssen und am Unkraut der Brachen, das selbst jetzt noch Blüten trägt und Samen ziehen läßt mit dem Winde! Du mußt es am Knospentreiben merken, wenn Du ins Geäst der Obstbäume schaust oder durch die Reihe der Kastanien gehst, l wie alles wird und wächst und sich bereit macht. Und laß nur die Tage der Sonnenwende noch vergehen, die letzten und kürzesten im Rhythmus des

Jahres, dann wirst Du auch das sich mehrende Licht wieder merken und die erstarkenden Strahlen.

Du kennst ja die Tage, da droben auf den Steilhängen unserer Berge der leichte, fliegende Pulverschnee zum körnigen, zischenden Firn wird und auf der Südseite die ersten Grasflecken ausapern, braun und wasserdurchronnen, früheste Künder des kommenden Frühlings. Du kennst die Krokusse, die kleinen, leuditenden Blütenbecher, die dann an den Hängen stehen, und die zierlichen Soldanellen, die violetten Erstlinge des schmelzenden Eises. Du kennst sie und kennst die seligen Tage und Vorfrühlingswochen. Alles, was in ihnen blüht und grünt, ist im Winter geworden, im dunklen, kalten und trüben Winter. Alles, was dann die Welt schön macht, ist aus der harten Not jener frostverhangenen Zeit geboren, die Du jetzt beklagst, da das Jahr seinem Ende zugeht!

Und auch die hellen Primeln, die dann am Fuß der silbergrauen Buchen aus dem feuchten Waldboden brechen, die schimmernden Weidenkätzchen am Bachufer und die stäubenden Haselblüten am Waldrand, auch sie sind wintergeboren und zeugen durch ihre frühlingsschöne Helligkeit für die Kraft des Lebens, die auch im Winter weiterwirkt.

Und wenn Dir der rauhe Wind den Atem verwehrt und der Schneee gegen Dich anstürmt, wenn Dir das glatte Eis den Boden unter den Füßen wegzieht und Dein Herz bedrückt ist von der Dunkelheit, dann mußt

Du an den Frühling denken, der eben jetzt wird und nur werden kann, weil das Jahr durch die Dunkelheit geht und das Eis schirmend über dem werdenden Leben liegt! Denke daran, wenn die Wiesen wieder grün geworden sind und bunt vom Flor der Wucherblumen und blauen Glocken, wenn das weiße Mädesüß hoch duftend auf den Lichtungen steht und der Pirol wieder zurück ist und aus dem Kiefernwald pfeift! Dann hast Du im leuchtenden Schimmer der heimatlichen Sonne die selige Landschaft vor Augen, der wir stets unsere Sehnsucht zuwandten, wo immer wir auch in der Fremde weilten und mochte sie noch so reich und schön sein!

Das Jahr geht überall durch seinen Kreis, aber er ist unterschiedlich in den verschiedenen Breiten und oft fremd. Wer seine Heimatstadt kennt, im hellen, duftenden Blühen der Fliederbüsche, im Leuchten der Kastanienkerzen in allen Straßenzeilen, wer sommers durch die hochgewölbte Kuppel der Buchenwälder zog und im Herbst durchs violette Blühen des Heidekrautes wanderte, wer die blütendurchwirkten Wiesengründe kennt, die droben im Gebirge den Frühling begrüßen, und die dunklen Wetterzirben am Gletscherrand unserer Berge, wer nur einmal den Anhauch der Steppe fühlte, die weit und sonnenoffen bis an die Grenzen unserer Heimat reicht, wer nur einmal die Alpen im Föhnlicht sah, unwirklich nah und klar, und darüber die seidigen, weißen Wolken, die vom Sturm noch nichts wissen und ihn doch schon ahnen lassen, wer so die Heimat sah und tief erlebte, der mag ruhig in die Fremde ziehen, der aufgehenden Sonne zu oder der untergehenden entgegen, dem Nordlicht nach oder in die Breiten des ewigen Blühens im Süden: er wird bereit sein, die Schönheit zu schauen und zu genießen, sein Herz aber wird nicht krank werden an der Fremde, sondern nur glücklich vor Heimweh.

Das wollte ich Dir sagen mit diesem Brief. Und wenn Du dann morgen vor das Haus trittst und der Rauhfrost die Bäume verzaubert hat, wenn im frischen Schnee die Trippelspuren der Stadtvögel sich zeichnen, wenn der kurze Wintertag im frühen Nebel ertrinkt und Du in den Schein Deiner Lampe zurückflüchtest und dem Sommer nachträumst, dann sollst Du an all das denken, was ich hier sdirieb und an all das glauben. Denn alles, das erste Blühen am schmelzenden Schnee, das schimmernde Grün der blühenden Wiesen, das bunte Färben des heimischen Waldes und den schneevergrabenen Weg durch den Wintertag, werden wir wieder erleben, wenn die Zeit um ist. Bis dahin mag manch dunkler Tag noch das Herz bange werden lassen, mag manch harter Wind Didi wild anspringen und die Sonne müde im Nebel vcnrU'men: in unserem Herzen, in Deinem und in meinem, ist das Wissen um die Schönheit und um die Helligkeit des Sommers, und so wie das Jahr durch alle seine Phasen geht, wollen wir auch durch das Leben gehen, in der Gewißheit, daß hinte,- dem Dunkel und der Fin-sternis immer wieder und sieghaft das helle Licht hochkommt!

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