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Es singen die Vögel wieder

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Selbst mitten im Winter, da unsere Standvögel im Frost und Schnee die Feindseligkeit des winterlichen Klimas am schmerzlichsten empfinden, sind überall Vogelstimmen zu hören; sdion um die Weihnachtszeit verraten die bald rollenden, bald kurzen und schrillen Laute des Kleibers die Erregung dieser bunten Spechtmeise, die mit ihren in die Rinde gekrallten Zehen den Baumstamm behende hinaufläuft. Aus den mit Schnee beladenen Büschen klingen die hell tönenden Rufe der Kohlmeisen wie zarte Hammerschläge auf silbernem Amboß. Wohl kann man diese Vogellaute kaum ein Singen nennen, aber sie klingen inmitten der kalten Jahreszeit schon so verheißungsvoll und tröstlich, daß uns kein anderer Frühlingslaut tiefer berühren könnte.

Woher aber dieses fein und zart anhebende Singen mancher unserer Standvögel mitten im Winter, wenn noch die ganze Natur unter Eis und Schnee in tiefem Schlafe liegt? So wie während der kalten Jahreszeit der Säftetrieb in Baum und Strauch wohl verebbte, aber nicht ganz versiegte, so schlummerte bei unseren Standvögeln seit Monaten der Liebestrieb, der nun allmählich wieder zu erwachen beginnt; da sich viele unserer heimischen Vogelarten, die nicht in wärmere Zonen verreisen, an den Winter unseres Klimas gewöhnt haben und bei uns verbleiben, unterliegen sie nicht mehr dem zwingenden Gesetze weiter Reisen in ferne Länder, das sie im Frühling und Herbste über Meere und Erdteile jagt. Diese Winterstimmen unserer gefiederten Freunde sind noch kein richtiger Gesang, sondern der natürliche Ausdruck sanfter Erregungen und mannigfacher Kundgebungen ihres Gemeinschaftsgefühles; Nöte und Entbehrungen harter Wintertage haben die Vögel nach Arten zu kleineren oder größeren Scharen vereint, aber dieses vorübergehende Gemeinschaftsleben fühn zu keiner individuellen Kunstfertigkeit und bringt keine großen Sänger hervor, denn der Herdengeist tötet den Künstler. Der BVuchfink muß sich erst von seinen 'Wintergefährten abgesondert haben, ehe er Ende Februar beginnt, seine jubelnde Melodie wieder einzuüben, und die Lerche wird sich nicht früher zum Ätherblau trillernd emporschrauben, als bis sie sich von ihren Leidensgefährten des Frierens und Hungerns getrennt hat. Das winterliche Vereinsleben der Meisen hat nicht lange gedauert, Männchen und Weibchen, bisher mit anderen Artgenossen zu umherschweifenden Sei)aren vereint, haben sidi abgesondert und ihr Leben zu zweien wieder aufgenommen; bei anderen Vogelarten waren die Pärchen niemals voneinander getrennt, aber die Stunde der Leidensdiaft hat noch nicht geschlagen, in der das Weibchen ihren Gefährten mit bebenden Flügeln zur Paarung lockt. Freundschaft, Schicksalsgemeinsdiaft und Zärtlichkeit woben unterdessen ein starkes Band von Lebensverbundenheit um die Gatten. Tag für Tag gehen sie nur miteinander auf Nahrungssuche, und wenn der Abend herniedersinkt, suchen und finden sie auf dem gleichen Fichtenzweige, in der gleichen Baumhöhlung oder in der gleichen Erd-mulde, eng aneinandergeschmiegt, ein gemeinsames Nachtquartier. '

Während die Tage allmählich länger, heller und wärmer wurden, ist es unterdessen März geworden, lachender, lenzender und sonniger März; zwischen der tiefen Bläue des azurfarben“ leuchtenden Himmels und der im goldenen Sonnenglanze schimmernden Erde liegt die strahlende Helle junger Frühlingstage, Luft und Licht sind von jener un-beschreiblidi süßen Lockung erfüllt, mit der uns jeder neue Lenz, allem herben Erleben

und aller bitteren Enttäuschung zum Trotze, immer wieder zu neuer Hoffnung zu führen vermag.

Nun ist auch die Stunde der großen Befeuerungskraft gekommen, leise zuerst, beinahe schüchtern und zögernd, aber mit der täglichen Zunahme von Licht und Wärme immer drängender und gebieterischer; bisher hatten beide Geschlechter gleichen Lockruf, gleiche Warnungssignale und gleiche Freudentöne, nun aber sammeln“ die Weibchen schweigsam und stumm den Schwall des neuen Lebensstromes in ihre Blutbahnen und Schöpfungsorgane, um sich in Bälde ihrem Mutterwerke — dem Legen und Bebrüten der Eier — zu widmen, während bei den

Männchen dieses frühlingshafte Strömen ihres Blutes durch alle Adern in einem gesteigerten Lebensgefühle, in der Bereicherung und Sdiönheit ihrer Stimme, in der blendenden Farbenpracht ihres Gefieders, in seltsamem Gehaben und feurigem Getanze aufflammt und viele Wochen hindurch lodert, womit sich Ansteigen der Leidenschaft und bevorstehende Hochzeitsfeiern ankündigen.

Der Gesang der Vogelmännchen im Frühling aber ist nicht nur ein werbendes Preislied und eine verzückte Lobeshymne an das Weibchen, sondern auch Ausdruck von Daseinsfreude und Lebenslust, Kampfentschlossenheit und höchstem Wohlbefinden.

In jedem Frühling, Jahr für Jahr, muß sich der Vogel damit abplagen, seine althergebrachte Melodie und Weise neu zu erlernen und einzuüben; je schöner und melodienreicher sein Lied, je' größer der Virtuose, um so fleißiger der Sänger und um so härter und langwiciger die Arbeit und Vorbereitung bis zur vollendeten Meisterschaft. Schon Ende Februar, an den ersten milden Abenden vor Sonnenuntergang, beginnen die Amseln mit zarten Tönen zu üben und ihre alte Melodie zu proben; viele Wochen hindurch wird fleißig musiziert, um Kehle und Stimmbänder wieder geschmeidiger zu machen und in Ordnung zu bringen, so daß die süßen Flötentöne jeden Tag klarer, reiner und voller werden. Wenn die Nachtigall im April in ihre Heimat zurückkehrt, hat sie ihre herrlichen Lieder vollkommen vergessen und muß die wundervollen Melodien des vergangenen Jahres wie ein Gesangsschüler neu einstudieren.

Wer Lieder und Melodien der gefiederten Sänger unserer Heimat kennt und feines musikalisches Gehör besitzt, den erfüllt es mit hellem Entzücken, ja, oft mit Ergriffenheit, im Frühling einen kleinen Vogel heimlich zu beobachten und bei seinen Gesangsübungen zu belauschen. Welche Unermüdlichkeit und Geduld im Suchen nach Reinheit und Schönheit der Töne, welch unablässiges Bemühen und Streben nach Voll-

endung des stimmlichen Ausdruckes und der

Klangfarbe und wieviel Sangesfreudigkeit und jubelnde Lebensbejahung! Das Liebeslied solch eines kleinen Vogels auf hell leuchtendem, vom Frühlingswinde wie von Gottes Odem bewegten Blütenzweige, das wie ein Dankgebet an seinen Schöpfer seinem winzigen, überseligen Herzen entquillt, klingt wie eine wundersame Melodie aus einem Paradiese, das wir Menschen längst verloren haben.

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