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Kleine Erinnerung

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Als Schulmädchen, so erzählte uns eine freundliche Förstersfrau im Salzkammergut, verbrachte sie ihre Ferienzeit meist auf Wanderungen. Einmal war sie anfangs August von Salzburg aufgebrochen, um mit ihren Gefährtinnen und Gefährten das Tote Gebirge zu erreichen; heißes Erntewetter begleitete die schönen Wochen, dessen sengende Strahlen sie immer wieder von der Landstraße in den Schatten der Wälder lockten. Luft und Landfreiheit erfüllten die jungen Menschen, die im Glänze der Sonne der Tage Zahl vergaßen, und sorglos, voll Dankbarkeit für die Herrlichkeit der Welt, dahintrieben.

Sie ahnten nicht, was für ein Erlebnis ihnen an einem der lächelnden Vormittage dieser Ferienwanderung begegnen sollte. Das blaue Geläut der Kirchenglocken erfüllte ihn schon vom frühen Morgen an. Sie streiften am Fuße des Katergebirges bei Ischl dahin. Es war heiß, aber nicht drückend; Bienen summten; die flachen unteren Hänge der „Kathrin“ atmeten Beerenreichtum und Süßigkeit; und weiter oben sprang eine silberne Quelle aus dem Moos. Während die jungen Menschen alles dies sahen, spürten, rochen, und über allem das ewig ruhevolle Rauschen der Wälder vernahmen, hörten sie plötzlich hoch über sich eine eigenartige Musik. Sie konnten durch die Stämme und Wipfel nichts erkennen, hielten still, und nun wurde es deutlich, ein vielstimmiger Gesang, der sich aus ferner Höhe zu ihnen herabsenkte. Die Klänge nahmen Gestalt an. Der ferne hohe Chor sang: „Segen sei dem Land beschieden und sein Ruhm dem Segen gleich. Gottes Sonne strahl' in Frieden auf ein glücklich Oesterreich!“

Die Worte paßten so gut zu allem, was sie umgab: dem Jauchzen des Waldes, der Gloriole des Himmels, der freien Lust des Wanderns und der Ungebundenheit des Tages - daß die Kinder wie gebannt und tief aufatmend stehenblieben, Tränen des Glückes in den Augen; ach, Seligkeit und süße Wehmut! War nicht alles hier so unfaßbar groß, daß nur noch Tränen einen Ausdruck dafür geben konnten?

Sanft konzertierten in dem Gesang die hohe Tonika der Erde, Rauschen, Jauchzen, Flüstern und die leise Melancholie mit, die ein allzu schönes Erlebnis bei uns Menschen hervorruft In einer sehr fernen Ahnung fiel auch der; Schatten von Kommenden hernieder, gestaltlos noch und doch schon dunkel. Immer mächtiger tönten die hymnischen Rhythmen des Kaiserliedes vom Gipfel der „Kathrin“ her, wo gerade das große Kreuz zum achtzigsten Geburtstag des österreichischen Monarchen aufgerichtet wurde.

„Es war der schönste Tag meines Lebens“, sagte die warmherzige Förstersfrau, und im Erinnern wurden ihre Augen feucht.. .Das Kreuz auf der „Kathrin“ steht noch heute, von Ischl aus scharf gegen den Horizont profiliert. Vieles sonst aber hat sich geändert, seit es hoffnungsvoll und mit so viel innigen Wünschen aufgerichtet worden ist. Eine herzzerreißende Zer- j Störung hat Land und Menschen überfallen, die Himmel scheinen immer noch davon zu klagen — doch wandern auch jetzt wieder junge Menschen fröhlich durch die Wälder, und die Sonne sengt den kräftigen Boden. Der Abstand vom 18. August 1910 bis zum heutigen Tage dünkt uns kaum abmeßbar, so vieles ist schon historisch, was vor wenigen Jahrzehnten noch frischeste Gegenwart gewesen war. Die Wälder rauschen, und der ewige Atem der Erde geht weiter in ergreifendem Gleichmaß. Aus dem jungen Mädchen von damals ist eine reife Frau geworden: — noch hat sich dieses Menschenleben nicht vollendet, und doch ist alles schon so ganz anders geworden.

So ist auch die Figur des Monarchen, die in den wohlerhaltenen Räumen der Ischler Kaiservilla vor dem geistigen Auge wiederersteht, von uns weit abgehoben: ein klassisch gewordenes Beispiel, dem ähnliches nicht folgen konnte; eine Gestalt letzter Größe in der Schlichtheit der Gesinnung, des Wesens; erhaben in der vollkommenen Hingabe an die übernommene Pflicht, von der auch die Tage der Erholung nicht frei blieben. „Es gibt keine Exkönige!“ hatte der Monarch einmal ausdrücklich zu seinem Kabinettchef geäußert; für ihn war das Herrscheramt keine angenommene Würde, sondern eine angeborene Sendung, der er sein ganzes Leben bis in die bescheidensten Bequemlichkeiten hinein aufopferte: — um des geliebten Landes willen, dessen erster Diener zu sein ihm von Gottes Majestät gegeben und auferlegt war.

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