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Der russische Pavillon

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Der russische Pavillon gehörte zu den ersten Zielen der Kunstkritiker und Journalisten auf der 28. Biennale d'Arte in Venedig, so groß war ihre Neugierde, zu sehen, was die Sowjetunion nach 22jähriger Abwesenheit an repräsentativen

Schöpfungen zu zeigen hatte. Sie'trafen dort auf eine liebenswürdige alte Dame in grauem Kleid und mit grauen Haaren, die bereit war, in etwas mühsamem und schüchternem Französisch Auskünfte zu geben: eines von den Wesen feiner Herzensbildung, wie sie heute kaum mehr anzutreffen sind und eher in der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts aufgesucht werden müssen. Mit einem Spitzenhäubchen wäre sie ideales Modell für eine Pastellminiatur gewesen. Ihre Anwesenheit an diesem Ort überraschte im ersten Augenblick, dann nahm man sie mit freundlicher Sympathie zur Kenntnis.

Beim Verlassen des Pavillons mag es dem einen oder anderen Kunstkritiker oder Journalisten erschienen sein, daß nur diese Dame hier richtig am Platze war — und nicht etwa ein autoritärer Kommissar oder einer von den jungen, blonden Leuten, die sich zu schaffen machten. Unter all den 34 Nationen auf der Biennale ist die Ausstellung der Sowjetunion die am wenigsten hintergründige, die am wenigsten problematische; keine andere, inbegriffen die Schau der Rumänen, Polen oder gar der Jugoslawen, ist so unpolemisch und atmet derartigen idyllischen Geist, selbst dort, wo das „Heroische“ in gerunzelten Stirnen und blitzenden Augen ausgedrückt werden soll. Für den Katalog hat der Kommissar German A. Nedo-schiwin die Einführung geschrieben, in der er der Auswahl der Werke einen gewissen retrospektiven Charakter zuerkennt, der Tatsache entsprechend, daß die Sowjetunion nicht über zwei, sondern über mehr als zwanzig Jahre künstlerischen Schaffens Rechenschaft zu geben hat. Man könnte aber ebenso gut an ein halbes Jahrhundert und mehr denken, etwa vor dem 1937 entstandenen, sechs Quadratmeter großen Historienbild in Rembrandt-Manier des immerhin erst 63jährigen Boris Joganson oder vor dem monumentalen Genrebild des 1910 geborenen Sergius Grigoriew.

Die Befürchtung, daß sich die — vom Kulturminister Mihailow persönlich getroffene — Auswahl der Werke auf die linientreuen Vertreter des „sozialistische Realismus“ beschränken werde, hat sich voll bewahrheitet. Aber gibt es noch andere? Die Entwicklung eines so hervorragenden Malers wie des Armeniers Martiros Sarian läßt es kaum vermuten. Von ihm sind saftige, humorvolle, durchaus eigenwillige Bilder aus der Zeit vor 1930 bekannt, die jedenfalls nichts von dem hatten, was der Kommissar Nedoschiwin als das Ideal der modernen sowjetischen Malerei bezeichnet, „Aufrichtigkeit in Inhalt und Form, die Schilderung der Freuden und Schmerzen, der Arbeit und des Lebens der Völker der Sowjetunion, die feste Stütze der klassischen Kunst, die praktische Weisheit“. Der Sarian auf der Biennale 1956 zeigt wohl noch die Spuren ehemaliger Originalität und Raffinesse, aber mehr noch jene der Gleichschaltung. Wir begreifen nun ohne wei- • ters, warum einem Mann wie Alexander Geras-simow, dem 75jährigen Präsidenten der Akademie der schönen Künste, ein Ehrenplatz eingeräumt wurde. Kein anderer wie er ist von allen schädlichen Einflüssen moderner Kunstauffassungen, vom Impressionismus an, so frei geblieben. Gerassimow ist, wenn der Vergleich gestattet sein soll, etwa der Professor Ziegler des Stalin-Regimes geworden, und seine Anwesenheit in Venedig zeigt, daß er auch heute noch etwas zu sagen hat.

Die lange Isolierung der Sowjetunion, fällt mit den Jahren des Stalinismus, des „Kultes der Persönlichkeit“, zusammen, ihre Wiederkehr mit der Koexistenz und Gemeinschaftsführung. Wenn die Neugierde über das Vergangene rasch zu befriedigen war, um so gespannter darf man auf die künftigen Leistungen künstlerischer Koexistenz sein, zu der sich einige der in Venedig erwarteten russischen Maler angeregt fühlen könnten. Was die Gemeinschaftsführung anlangt, so hat sie in der Kunst bereits praktische Anwendung gefunden: die Maler Kupria-now, Krylow und Sokolow arbeiten unter dem gemeinsamen Namen „Kukriniksa“ zusammen.

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