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Der Sinn der Geschichte

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Der Philologe beschäftigt sich mit dem Wunder der Sprache, der Botaniker mit dem Wunder des Pflanzenlebens, der Historiker mit dem Wunder des Weltlaufs. Lauter Geheimnisse, die noch kein Mensch zu entziffern vermocht hat. Ja selbst der Physiker, wenn er genial ist, stößt fortwährend auf Wunder. Je tiefer eine Wissenschaft in die Sphäre des Wunderbaren einzudringen vermag, desto wissenschaftlicher ist sie. Und die Kultur einer Zeit läßt sich an der Zahl der Wunder messen, die sie exakt nachzuweisen vermocht hat. Ein Zeitalter ist um so aufgeklärter, je mehr Rätsel es entdeckt.

Hieraus ergibt sich, wie hoch die Kultur der Zeit zu bewerten ist, in der wir uns befinden. Wir kommen uns ungeheuer human und gescheit vor, wenn wir unsere Zustände mit denen des Mittelalters vergleichen. Es erscheint uns düster, beschränkt, leichtgläubig. Und in der Tat: damals glaubte man wirklich alles. Man glaubte jede Erzählung, jeden Traum, jedes Gerücht, jedes Gedicht, man glaubte an Wahres und Falsches, Weises und Wahnsinniges, an Heilige und Hexen, an Gott und an den Teufel. Aber man glaubte auch an sich, überall sah man Realitäten, selbst dort, wo sie nicht waren: alles war wirklich. Und überall sah man die höchste aller Realitäten: Gott. Alles war göttlich. Daher trotz aller Jenseitigkeit, Dürftigkeit und Enge der prachtvolle Optimismus jener Zeiten: wer an die Dinge glaubt, ist immer voll Zuversicht und Freude. Das Mittelalter war nicht finster, das Mittelalter war hell.

Mit einer ganzen Milchstraße, die der Rationalismus in Atome aufgelöst hat, können wir nicht das geringste anfangen, aber mit einem pausbackigen Engel und einem bockfüßigen Teufel, an den wir von Herzen glauben, können wir sehr viel anfangen. Man sagt uns freilich, Fetischismus, Mythologie und dergleichen seien alberne und rohe Dinge; aber wir haben diese schlimmen Dinge ja auch noch in unserem heutigen Leben, nur in unsäglich platterer, geistloserer und gemeinerer Form: unsere Fetischtempel heißen Zeughaus und Parlament, und unsere Mythologie lesen wir täglich dreimal in der Zeitung.

Es geschehen heute keine Wunder mehr, aber nicht weil wir in einer so fortgeschrittenen und erleuchteten, sondern weil wir in einer so heruntergekommenen und gottverlassenen Zeit leben. Und was sagt Gott dazu?

Die Intensität, mit der diese Frage gestellt wird, ist in der Tat das, was jedem Zeitalter und jedem Individuum seinen Rang anweist. Die Frage selbst lebt in jedem Menschen und in jeder Zeit.

Dieselbe Kraft, die die Pflanzenwurzel Phosphor wählen läßt, treibt den Menschen zum Gottglauben und zu allem, was damit zusammenhängt, Wir können aus der Geschichte die Existenz Gottes mit derselben Stringenz beweisen, mit der wir in der Chemie die Existenz von Eiweiß beweisen können. Gott ist für unsere Seele, was Eiweiß für unseren Körper ist: ein auf die Dauer unentbehrlicher Assimilationsstoff.

Inhalt und Zweck aller schöpferischen Tätigkeit besteht in nichts anderem als in dem Nachweis, daß das Gute, der Sinn, kurz Gott, überall vorhanden ist. Er ist die einzige Realität, die aber meist unsichtbar ist. Der Genius macht sie sichtbar: dies ist seine Funktion. Man nennt ihn daher auch gotterfüllt. Das gilt für den Genius des einzelnen Menschen, den der Völker, den der Epochen, den einer Kultur. Die Tatsache „Gott“ ist überall wiederzufinden, wieder-zuerblicken, wiederzuerkennen. Dieses Wiedererkennen Gottes in der Welt ist das höchste Ziel der Geschichte.

Aus dem Buch „Das Altertum war nicht antik — Und andere Bemerkungen“, Georg-Prachner-Verlag, Wien,

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