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Die kurze Stunde der „Ere nouvelle”

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Frankreich 1842: Auf 34 Millionen Einwohner werden offiziell! 4 Millionen Bettler, 4 Millionen „Bedürftige” und 4 Millionen „Lohnempfänger ohne irgend welche Ersparnisse” gezählt. Das Regime des Bürgerkönigs zählt 190.000 zugelassene Wähler. Das Todesalter der Erwachsenen in der Arbeiterschaft liegt zwischen 21 und 25 Jahren. Zwei Drittel, ja drei Viertel aller Säuglinge der Arbeiterschaft sterben früh.

Aus der Schule des „Avenir”, aber auch konservativer und liberaler Katholiken um Chateaubriand entwickeln sich katholische Kritiker dieser Gesellschaft, wie De Coux, Rubichon, Villeneuve-Bargemont, kommt der große Vorkämpfer einer sozialen Gesellschaftsreform, Vicomte Armand de Melun. Die Polizei überwacht „demagogische” Priester, wie den Abbé Ledreuille, die ersten Arbeiterpriester in Pariser Pfarren.

„Es lebe Papst Pius IX.”: Eine Welle von Hoffnungen dringt gerade auch aus Frankreich dem neuen Papst, der am 17. Juni 1846 gewählt wird, entgegen. Chateaubriand hatte bereits am 17. Juni 1829 als Botschafter aus Rom an Graf Portalis depeschiert: „Es gäbe heute riesenhafte Aufgaben zu erfüllen für einen Papst, der in den Geist des Jahrhunderts eintreten würde.”

Ozanam vergleicht am 10. Februar 1848 im „Correspondant” die Lage der Kirche mit der dm 8. Jahrhundert; allzulange dem verfaulenden Thron in Byzanz verbunden, sucht sie nun Freiheit in einem Bündnis mit den Barbaren. Die proletarischen Massen sind „die Barbaren der Neuzeit”. „Gehen wir zu den Barbaren über und folgen wir Pius IX. iü

Der „kleine Ozanam”

„Der kleine Ozanam”, Frédéric Ozanam (1813 bis 1953) wird von den „guten Katholiken” der guten Gesellschaft im Bilde eines braven, schüchternen Vorzugsschülers devotester und gehorsamster Prägung überliefert. Der wirkliche Ozanam sieht anders aus. Sein Vater war ein tapferer, jüdischer Konvertit, Republikaner, Arzt, der statt einer großen Karriere in Paris es vorzieht, Armenarzt in Lyon zu werden. Er stirbt beim Einsturz in einem verfallenen Haus, in dem er einen Krankenbesuch abstattet. Die Mutter, eine nicht minder heroische Persönlichkeit, sieht elf von vierzehn Kindern klein dahinsterben; sie gründet eine karitative Gruppe „La Veilleuse”. Motto: dienen, helfen!

Der junge Ozanam sieht in Lyon ein Meer von Elend; das gesellschaftliche System der Zeit erscheint ihm als eine „Fabrik zur Erzeugung von Armen”. In einer kleinen Schrift („Réflexions sur la doctrine de Saint-Simon”, 1832) sind alle Maximen seines Denkens enthalten. Nach dem Ende des „Avenir” gründet er 1833 mit Bailly die erste Vinzenz- konferenz („Conférence de Saint Vincent de Paul”). Acht junge Männer, alle aus bürgerlichen Familien, gehen mit ihm ins Proletariat, um ihre Erfahrungen zu sammeln Gleichzeitig gründet er ein Studienzentrum („Conférence d’histoire et de philosophie”); Ozanam weiß, daß Gesellschaftsreform und Reform der Wissenschaft, ihrer Methoden, Ziele, Themen miteinander Kontakt suchen müssen.

Ozanam wird Jurist, Rechtsanwalt, Historiker, Literaturhistoriker, Geisteswissenschaftler. Mit knapp 30 Jahren ist er Professor an der Sorbonne. Ozanam wendet sich gegen eine falsche Idealisierung des Mittelalters (er hat über Dante promoviert), das voller Wirren und sozialer Ungerechtigkeiten war. Jeden Morgen steht er von acht bis zehn Uhr seinen Studenten in seiner Wohnung zum Gespräch zur Verfügung. Er ist einer der wenigen großen Wegbereiter einer offenen Universität, als einer Gesprächsgemeinschaft der Lehrenden und Lernenden

Das aufständische Volk sieht im Februar 1848 voll Ehrfurcht auf die Religion. Das ist nicht zuletzt das Werk der kleinen Gruppen katholischer Sozialreformer, die zwischen

1832 und 1848 unbedankt und vielfach bekämpft ihr Werk getan hatten. Nun lädt man Priester ein, die Freiheitsbäume zu segnen.

Der Erzbischof von Paris, Affre, begrüßt die neue Regierung. Der hohe Klerus schließt sich ihm an. Nüchtern schreibt Ozanam an seinen Bruder, der ein Abbé ist: „Es ist notwendig, daß die Pfarrer auf ihre kleinen bürgerlichen Pfarreien verzichten in der Mitte einer immensen Bevölkerung, die sie nicht kennen.”

Tocqueville bewundert die Disziplin des aufständischen Volkes. Die Integraiisten der Rechten malen die „Gefahren aus Rom” an die Wand von Paris: Pius IX. wird als „ein Robespierre mit der Tiara”, minde-

st’ens als ein unfähiger „Ludwig XVI. des Papsttums” denunziert; er sei geisteskrank oder geistesschwach. In Rom trete der Kommunismus zur Machtübernahme an.

Ähnliche Beschimpfungen werden 1892 Papst Leo XIII., dann 1915 Papst Benedikt XV., dann (im Tone gemilderter und tückischer) um 1962 Papst Johannes XXIII. zugeeignet: ein gewisser katholischer politischer Integralismus weiß sich päpstlicher als der Papst und glaubt sich berechtigt, nicht nur jede „unangenehme” Papstrede für sich zensurieren zu dürfen, sondern verpflichtet zu sein, den Papst zur „rechten Ordnung” zurückzurufen, wenn dieser als Abweichler erscheint.

Die „große Angst” geht um

In Paris verspielen die politischen Führer der Mehrheitskatholiken um Montalembert 1848 die Chance des Katholizismus im 19. Jahrhundert, sie verbinden sich mit der großen Angst der Großbourgeoisie und entscheiden sich gegen die Hoffnung des Volkes.

Tocqueville schildert in seinen „Souvenirs” den „abgründigen Schrecken”, der die Besitzenden ergriffen hat; dieser großartige Beobachter aus altem normannischen Adel notiert: „Ich glaube nicht, daß in irgendeiner Epoche unserer Geschichte die Panik des Bürgertums so groß war.” Tocqueville vergleicht diese „panique bourgeoisie” mit der Angst der späten Antike vor Goten und Vandalen. Flaubert hält in seiner „Education sentimentale” die Tragödie von 1848 fest: „Damals stieg das Eigentum in der Hochschätzung auf das Niveau der Religion auf und vermischte sich mit Gott.” Das katholische Bürgertum identifiziert die Religion und seinen Besitz und verteidigt beide gegen das Volk.

Das ist die Stunde, in der im Kampf um die Seele Frankreichs und seines Katholizismus die Gefährten des „Avenir” von 1830 sich als Gegner gegenübertreten. Eine Handvoll Katholiken um Lacordaire und Ozanam hat sich um die Zeitschrift „L’ere nouvelle” geschart: de Coux, Maret, Charles de Sainte-Foi, Lorain, de Labaume, Tessier, Gouraud. Die überwältigende Mehrheit der Katholiken steht in den verschiedenen monarchistischen und bürgerlichen Lagern. Der größte Sprecher dieses Katholizismus ist Montalembert. Von der Demokratie hat er nie viel gehalten, ja sie nicht ungern verspottet. Triumphierend berichtet der „Correspondant” über seine Rede in der Nationalversammlung am 21. Juni 1848: „Heute haben sich die Sache der Religion und die des Eigentums verbunden “

Montalembert plädiert für freiwillige Almosen: der Staat darf solche aber nicht den Reichen abverlangen. Montalembert alarmiert die Katholiken gegen „die böse neue Schule im Katholizismus”, die ein Recht auf Arbeit verkünde, für progressive Steuern eintrete usw. Montalembert schießt am 23. Oktober 1848 im „Ami de la Religion” eine wahre Kanonade gegen die „Sire nouvelle” ab: diese Katholiken haben die Revolution vorbereitet. Gleichzeitig bemüht er sich, in Rom die Verurteilung

Ozanams durchzusetzen. Veuillot „säbelt” (das sind seine eigenen Worte) im „Univers” diese „geistesschwachen oder heuchlerischen Sozialisten”, die Gruppe um Lacordaire und Ozanam, nieder

In tiefer Trauer sieht Ozanam auf diese Entwicklung, der als erstes die

„Ère nouvelle”, zum zweiten der französische Katholizismus, zum dritten Frankreich zum Opfer fällt.

„Ère nouvelle”: Ozanam, Lacordaire und der Abbé Maret gründen am 1. März 1848 diese Zeitschrift, deren erste Nummer am 15. April erscheint. Lacordaire erklärt hier: es gibt heute „zwei siegreiche Kräfte in Frankreich: die Nation und die Religion, das Volk selbst und Jesus Christus; wenn sie sich trennen, sind wir verloren; wenn sie sich verstehen, sind wir gerettet”.

Die „Ère nouvelle” beschwört die französischen Katholiken, die soziale Frage und das große Elend in Frankreich zu verstehen. Der Klerus soll sich den Massen widmen und seine kleinen reichen Ghettopfarreien aufgeben. Der Erzbischof von Paris, Affre, bekennt sich am 16. April öffentlich in einem Brief zur „Ère nouvelle”. Diese erreicht im Juni eine Auflage von 20.000 Stück. Die katholische Rechte hat aber sofort nach dem Erscheinen dieses „roten Journals” einen Feldzug begonnen, den sie bis zur Vernichtung durchhält. Bedeutsam ist, daß von den 6000 Abonnenten im Mai 1848 nahezu 2000 Priester sind. Arbeiter schließen sich in kleinen Gruppen zusammen, um sie gemeinsam zu abonnieren.

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