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Beginn der katholischen Neuzeit

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Vor einhundert Jahren, am 21. November 1861, starb nach schwerem Todeskampf in Soreze, in der Diözese Albi, ein Mann, mit dessen Namen und Wirken die Tragödie des französischen Katholizismus im 19. Jahrhundert und das Drama des europäischen Katholizismus im 20. Jahrhundert verknüpft sind: Lacordaire. Sein Name war einst ein Fanal: die Fahne der Hoffnung, die Fahne jener Priester und Laien in Frankreich, die zweimal, 1832 und 1848, aufbrachen, um die Kirche und die beginnende Neuzeit zu versöhnen. Beide Male wurden sie geschlagen, dann zermalmt.

Wenn einmal in einer nicht zu fernen Zukunft die Geschichte des europäischen Katholizismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert geschrieben werden wird, so, wie sie wirklich war, und so, wie sie, gefangen in Berlin- Plötzensee, der deutsche Jesuit Alfred Delp vor seinem Tod durch den Henker im Winter 1944 45 ersehnte, dann wird man dieses Mannes gedenken: des Henri Lacordaire, geboren am 12. Mai 1802 in Recey-sur-Ource, 1827 zum Priester geweiht (sein Erzbischof hatte sein Gesuch, in die Gesellschaft Jesu eintreten zu dürfen, abgelehnt); 1838 wurde Lacordaire Dominikaner (er nahm den Namen des heiligen Dominikus als Ordensname an); er führte den seit 1790 unterdrückten Orden in Frankreich wieder ein und wurde 1850 bis 1854 der erste Obere der neuen französischen Ordensprovinz. Nicht von Lacordaire als jungem Juristen, nicht von Lacordaire als Seelsorger an einem Pariser Nonnenkloster und Religionslehrei am Kolleg Henri IV., auch nicht von dem hochberühmten Prediger in Notre-Dame (seit 1835) soll hier gesprochen werden. Diese Geschichte Lacordaires gehört weithin der Vergangenheit an. Eine andere Geschichte Lacordaires gehört der Zukunft: es ist die Geschichte seiner Zermalmung; r eflt diesrmit seinen Freunden um den wAvenir’i, um „L’Ere Nduvelle”. „Zflkunft” und’ „Neues

Zeitalter” heißen die beiden Zeit schriften, die beiden Bewegungen, an denen er gründend und führend mitbeteiligt war. Wer diese Vergangenheit studiert, fragt sich: Hat die Zukunft des europäischen Katholizismus schon begonnen? Heute, Ende

1961 … ?

Zehn Jahre vor seinem Tode entsagt Lacordaire auch der Predigt tätigkeit in Notre-Dame. Der junge Lacordaire, der eben den Glauben wiedergewonnen hatte, will aus Verzweiflung über die religiös-politischen Verhältnisse in Frankreich nach Amerika auswandern. Zwischen diesen beiden Daten, 1830 und 1851, spielen die zwei Akte des Dramas, das noch nicht zu Ende ist…

Frankreich nach 1816. Von 50.000 geistlichen Stellen sind 17.000 vakant, nicht besetzt. Das Restaurationsregime der zurückgekehrten Bourbonen versucht zwischen 1816 und 1830 mit Hilfe der Armee, der Polizei und der Gerichte Frankreich zwangsweise zu „bekehren”. Offiziere müssen ihre Soldaten geschlossen in die Kirche führen. In seinem berühmten Memorandum für Karl X., ..Der Thron und der Altar”, rät der Abbe Liautard dem König, die Ausbildung weiterer

Buchdrucker und die Eröffnung neuer Papierfabriken zu verbieten. Die

Pressefreiheit wird als eine „Pest” erachtet. Ein großer Haß steht auf in dem zweigeteilten Frankreich. Man gibt der Kirche die Schuld an den politischen Verhältnissen. Renaissance Voltaires und Rousseaus: zwischen 1814 und 1825 werden mehr als zwei Millionen Exemplare ihrer Werke verkauft.

Dreißig neue Bischöfe! Man bringt in diesem hohen Amt den alten geistlichen Adel unter. Der junge Kardinal- Herzog Rohan umgibt sich mit einem riesigen Luxus und verlangt, daß während seiner Mahlzeiten der Bürgermeister des Ortes hinter ihm mit dem Säbel an der Seite strammsteht. Voll Verachtung benützen die Staatsführer die Kirche, um sich ihrer zur Unterwerfung des Volkes zu bedienen. Chateaubriand bitter darüber 1816: der Staat erwartet nur eines von der Kirche: daß sie ihm Royalisten

„mache”.

„Gott und die Freiheit”

Da wirft sich eine Handvoll Katholiken der Versklavung der Kirche durch das Regime entgegen: der

Baron d’Eckstein gibt 1826 bis 18 30 eine Zeitschrift, „Catholique”, heraus. Er kämpft gegen die Verbindung von Polizei-Staatspolizei-Zwangsbekeh- rung. Der Baron beschwört den Episkopat: die Bischöfe haben sich selbst eiserne Fesseln geschmiedet durch ihre Verbindung auf Gedeih und Verderb mit dem Regime. Am 16. Oktober 1830 erscheint die erste Nummer des „Avenir”: Lacordaire hat sich hier mit Montalembert und La Mennais zusammengefunden unter der Devise: „Gott und die Freiheit.” Der „Avenir” schlägt den ernst zu nehmenden Liberalen einen Pakt vor mit drei Grundsätzartikeln: Gewissensfreiheit, Kultfreiheit, Pressefreiheit.

JDezesjibec 18 30 erwart…tjöft Lacotdair ;,, „Katholiken. überlaßt jeden, die nur. an die Fürstin diesfei Erde glauben, die Hoffnungen der Knechtschaft!” Der „Avenir” kämpft gegen die Proletarisierung, gegen die 14- bis 15stündige Kinderarbeit in den Fabriken. La Mennais schreibt an die Komtesse de Senft: Wie kann diese Gesellschaft noch bestehen? Von hundert Personen hinterlassen 84 nicht so viel, daß e9 zur Bezahlung der Bestattung ausreicht; die europäische Staatengesellschaft löst sich gleichzeitig in permanente Kriege und in Anarchie auf.

Leitmotiv des „Avenir”: der Priester soll ein Freund und Helfer des Volkes sein. Der „Avenir” kämpft gegen den Nationalismus, für Völkerversöhnung, für die Trennung von Kirche und

Staat, da dieser Staat die Kirche versklavt, unter dem Vorwand, sie zu schützen. Der „Avenir” hat nur dreitausend Abonnenten, aber eine sehr breite Strahlung, besonders im jungen Klerus. Ein furchtbarer Haß wird entfacht.

Carlisten, Monarchisten, Gallikaner entfalten einen Großfeldzug der Denunziation und Verleumdung gegen den „Avenir” und die kleine Schar seiner Träger. Vorübergehende Einstellung des „Avenir” am 15. November 18 31. Lacordaire pilgert mit La Mennais und Montalembert nach Rom zu Papst Gregor XVI., um ihre Sache zu verteidigen. Die Audienz dauert nicht ganz eine Viertelstunde. Der Papst zeigt ihnen eine silberne Sta tuette, eine Nachbildung des Moses vom Grabe Julius’ II.: der Papst verwaltet den Gotteszorn. Am 23. April 1832 schreiben dreizehn französische Bischöfe einen Kollektivbrief an den Papst, um die Verurteilung des „Avenir” zu erreichen. Am 15. August erscheint die Enzyklika „Mirari vos”, ein Dokument, getränkt vom Geist der Todfeinde des „Avenir”. Am

10. September 1832 löst sich der „Avenir” selbst auf, gehorsam der Enzyklika. Am Ostersonntag, 7. April 1833. liest in seiner bretonischen Einöde in La Chenaie La Mennais seine letzte Messe. Der große Vorkämpfer des Papsttums und der Kirche trennt sich von beiden.

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