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Die Symphonie in Rot

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LITERATUR UND REVOLUTION. Die Schriftsteller und der Kommunismus. Von Jürgen Rühle. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln-Berlin. 620 Seiten. Preis 2 8.50 DM.

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LITERATUR UND REVOLUTION. Die Schriftsteller und der Kommunismus. Von Jürgen Rühle. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln-Berlin. 620 Seiten. Preis 2 8.50 DM.

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„Während ich diese Zeilen schreibe, leiden Schriftsteller in den Zuchthäusern und Gefängnissen der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, der ungarischen und chinesischen Volksrepublik, Jugoslawiens und Spaniens. Den Ermordeten und den Verfolgten ist dieses Buch gewidmet.“ Diese Worte aus dem Vorwort sagen den Atem an, der die mehr als 600 Seiten dieses Dokumentarwerkes beseelt. Rühle, bestens bekannt geworden bereits durch den Vorläufer dieses Buches, „Das gefesselte Theater. Vom Revolutionstheater zum Sozialistischen Realismus", befaßt sich hier mit dem Leben, Leiden und Sterben der „roten“ Dichter und Schriftsteller in Rußland, Deutschland, Frankreich, England, in beiden Amerika, in Polen, Ungarn, China. Der Tod der beiden hochbegabten Zugvögel der Revolution, Jessenins, der sein letztes Gedicht mit seinem eigenen Blut schreibt, bevor er sich in Leningrad im Dezember 1925 erhängt, und der Selbstmord Majakowskis am 14. April 1930, bilden Höhepunkte im ersten Satz dieser großen, einzigartigen Symphonie in Rot: zwischen 1902 (Gorkijs „Nachtstück“) und 1957 (Pasternaks „Doktor Schiwago“) reiht sich da Drama an Drama, Tragödie an Tragödie, die Ausrottung, Brechung, Zermalmung der Dichter, der Sänger, der Romanciers in den Todesmühlen des Stalinismus und seiner Ableger. Ein überwältigender, hierzulande unbekannter Reichtum an Werken, an Tönen und Farben wird da erstmalig sichtbar, in den sehr geschickten Auswahlstellen, die Rühle zur Charakterisierung des Lebensweges und Werkes der Dichter und Schriftsteller zunächst in der Sowjetunion heranzieht. Seinen einzigartigen Wert erhält dieses Buch durch diese zwei Fundamente: als Materialsammlung, als in dieser Weise erstmalige zusammenfassende Darstellung der roten Literatur in allen Kontinenten und Ländern, und als Dokument einer großen Liebe. Jürgen Rühle vergißt nie — dies sagt er ins Gesicht eines pharisäischen, saturierten, zuinnerst unsicheren und timiden „westlichen“ Publikums —, daß in der Schändung des Menschen, in der Brechung und Vernichtung dieser Dichter und Schriftsteller nicht zuletzt die große Revolution geschändet wird, der diese Frauen und Männer auf sehr verschiedene Weise verbünden wären. An einem wichtigen Achsenpunkt seines Berichtes, bei der Behandlung der deutschen linken Schriftsteller in dem Kapitel „Links, wo das Herz sitzt“, bezieht sich Rühle auf Thomas Mann, auf dessen Selbstkommentar zu einem seiner „anstößigsten“ Sätze, 1953: „Ich habe keine politischen Glaubensbindungen und bin kein Kommunist. Das vielzitierte Diktum ,Der Antikommunismus ist die Grundtorheit unserer Epoche' meint nichts anderes, als daß die Verwirklichung der Fernziele der Menschheit: Weltregierung, gemeinsame Verwaltung der Erde und ihrer Güter, Völkerfriede, ohne kommunistische

Züge kaum vorzustellen sind.“ Rühle verweist hier auch auf eine andere Äußerung von Thomas Mann von 1932: „Der Bürger ist verloren und geht des Anschlusses an die neu heraufkommende Welt verlustig, wenn er es nicht über sich bringt, sich von den mörderischen Gemütlichkeiten und lebenswidrigen Ideologien zu trennen, die ihn noch beherrschen, und sich tapfer zur Zukunft zu bekennen. Die neue, soziale Welt, die organisierte und Planwelt, in der die Menschheit von untermenschlichen und nicht notwendigen, das Ehrgefühl der Vernunft verletzenden Leiden befreit sein wird; diese Welt wird kommen, und sie wird das Werk jener großen Nüchternheit sein, zu der heute schon alle in Betracht kommenden, alle einem verrottenden und kleinbürgerlichdumpfen Seelentum abholden Geister sich bekennen.“

Diese Sätze von Thomas Mann charakterisieren sehr gut die linke humanistische Intelligenz, die weit über den Rahmen und Kerker des Stalinismus hinaus das Denken der letzten Jahrzehnte bestimmt hat. Nicht zuletzt in Amerika. Rühles Schilderung der amerikanischen sozialkritischen Autoren, der Kommunisten, Mitläufer und zeitweiligen Gläubigen des roten Kredos, ist in diesem Zusammenhang besonders beachtenswert. Für den Leser deutscher Sprache gewinnt dann die Be-

handlung der Dichter und Autoren in der DDR ein besonderes Interesse. Rühle, der vor seinem Exodus die meisten dieser Frauen und Männer selbst kannte, liefert hier ein Meisterstück einer ehrenhaften Auseinandersetzung. Ein nicht selten tristes Schauspiel, die Verwandlung eines Begabten in einen Parteischreiber, eines offenen Menschen, dem nichts Menschliches ganz fremd ist, in einen harten Bürokraten und Amtswalter der „Kultur“, wird nicht beschönigt und mehrfach an eindrucksamen Zitaten dargelegt. Sehr zum Unterschied von manch anderen Exkommunisten und Fanatikern der anderen Seite vergißt Rühle nie, daß nicht nur die Geschundenen und Geschändeten, sondern auch jene, die sich selbst vertan, ver- redet, prostituiert haben, Menschen mit einer Seele sind und in all ihrer Misere zu würdigen sind. Die Kapitel über Anna Seghers, den „anderen Bert Brecht", und über „Johannes E. Bechers poetische Konfession" sind in diesem Sinne auch Dokumente einer innerdeutschen Auseinandersetzung, die vorbildlich wirken sollte. — Die reichhaltige Bibliographie (S. 571 bis 599) rundet dieses unersetzliche Werk ab, öffnet es gleichzeitig als eine Einladung, sich gerade in der anderen Hemisphäre weit mehr als bisher mit diesen Genossen unserer Gegenwart und Zukunft zu befassen.

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