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Durchblick in eine neue Welt

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Die Kirche hat Zeugen nötiger als Apologeten. Papst Pius XII.

Für den deutschen Katholizismus ist das Jahr 1945 der Beginn einer neuen entscheidenden Epoche. Man muß seine Geschichte, seine Kämpfe, seine Niederlagen und seinen Ruhm kennen und verstehen, um zu ermessen, wie tief die Krise geht, die seit diesem Jahre seine innere und äußere Entwicklung offensichtlich kennzeichnet. Es ist keinesfalls eine Krise, die nur Besorgnis erregt. Im Gegenteil: auch auf den deutschen Katholizismus trifft zu, was Kardinal Suhard im Jahre 1947 von der allgemeinen Nachkriegssituation sagte: „D i e R u-inen sind ein Unglück. Sie sind zugleich ein Symbol. Etwas ist auf Erden gestorben, das nichtwiedererstehen wird.“ Der Krieg erhält damit seinen wahren Sinn: er ist nicht ein Zwischenspiel, sondern ein Epilog. Er zeigt das Ende einer Welt an. Aber zugleich erscheint die Ära, die anhebt, in der Gestalt eines Prologs: eines Vorwortes zum Drama einer Welt, die im Werden ist. Alle Anzeichen und einhelligen Zeugnisse kennzeichnen übereinstimmend unsere Epoche als ein Zeitalter des Übergangs. Die Leiden, die die ganze Welt heimsuchen, die Gefahren, die den Morgen bedrohen, die großen Strömungen, die sie durchziehen — es sind weniger die Folgen einer Katastrophe als die Vorzeichen einer nahen Geburt. Oder genauer gesagt: Die gegenwärtigen Nöte sind nicht eine Krankheit“ und auch nicht die Verfallserscheinung der Welt. Sie sind Ausdruck einer Wachstumskrise — entscheidender Augenblick in dieser hinfälligen und stürmischen Jugendzeit, der bedeutsame Augenblick, da neue Werte bis dahin gültige Strukturen ersetzen.

Man kann sagen, daß im Jahre 1945 die apologetische, defensive Emanzipationsepoche des deutschen Katholizismus im wesentlichen ihr Ende gefunden hat. Ihre Höhepunkte waren die antiprotestantische Gegenreformation im 16. und 17. Jahrhundert, der antimodernistische „Kulturkampf“ im 19. Jahrhundert und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Während dieser Perioden war es notwendig gewesen, daß die Katholiken Deutschlands in engem Bunde mit ihren Bischöfen und dem Papst, in deutlicher Abgrenzung gegen die liberalen und sozalistischen Irrlehren, gegen den Stolz der modernen Wissenschaft und gegen den totalen Staat eine klare Stellung bezogen, um nicht vom Strudel des Relativismus mitgerissen zu werden. Diese Haltung der Verteidigung kennzeichnet auch weiterhin die Lage der Katholiken in der Sowjetzone Deutschlands und würde allenthalben neu erstehen, sollte sich der totalitäre Bolschewismus über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinaus ausdehnen können.

Aber inzwischen haben sich. andererseits entscheidende Wandlungen im Verhältnis von Kirche und moderner Welt vollzogen. Sie äußern sich in Deutschland in spezifischer Weise und lassen die Hoffnung aufkeimen, daß das Wort der Kirche Jesu Christi, die frohe Botschaft vom Heil in seinem Blut und in seiner Auferstehung, auf eine neue und vertiefte Weise — trotz aller Gefahren und unabhängig von allem Wechsel der ideologischen, theologischen und politischen Systeme — in die Welt dringt; daß der Verlust bisheriger politischer und institutioneller Machtpositionen der Kirche einen inneren, wahrhaft geistlichen Reichtum vermittelt, der sie ihrem Herrn nahebringt; der sie zu dem einzigen Anker der Hoffnung und der Sinn-haftigkeit macht, an den sich mehr und mehr die ernsten Geister unserer Epoche klammern, je tiefer die Philosophien der Verzweiflung und des Absurdismus in die Welt zu dringen drohen. Dieser Prozeß ist in Deutschland noch nicht so weit vorangeschritten, wie zum Beispiel in Frankreich. Aber die enge Verbundenheit des jungen deutschen und französischen Katholizismus, die gegenseitige Bereicherung, die trotz der alten nationalen Gegensätze die katholischen Eliten der beiden Länder in nie dagewesener Weise nahegebracht hat, all dies beweist, daß auch der deutsche Katholizismus von jener tiefen Erneuerung ergriffen ist, die für die Zukunft des abendländischen Christentums von so entscheidender Bedeutung sein wird. Die alten, meist abstrakten Defensivpositionen genügen nicht mehr.

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