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Erwählt oder verrückt?

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Die Berge in der Schweiz sind hoch. Die Täler eng und gewunden. Die Ebenen weit. Die Schweizer sind strebsam, sparsam und stolz. Daß Schweizer besonders fromm und heilig sind, gehört wohl weniger zu den gängigen Klischees. Vielleicht haben die Schweizer deshalb eine so innige Beziehung zu ihrem Heiligen: dem Nikolaus von derFlüe (1417-87). In der Darstellung von Pirmin Meier war er nicht nur durch und durch Schweizer mit allen notwendigen Attributen, sondern er war auch ein außergewöhnlicher Heiliger. Seltsamer, furchteinflößender, fremdgewordener Einsiedler aus ihrer Mitte.

Bis zum heutigen Tag werden Tausende Pilger jedes Jahr mit Bussen in den Ranft bei Sachsein in der Innerschweiz, gekarrt. Begegnen dort dem Bild jenes Heiligen: schmal, hohlwangig, ausgezehrt. Vor allem viele Männer (Achtung: Vorurteil?) bewundern die Entschlußkraft des zehnfachen Familienvaters, Frau und lärmende Kinderschar auf dem arbeitsintensiven Hof zurückzulassen, um sich in die Einsiedelei zu begeben. Der Autor des umfangreichen Buches über Bruder Klaus, weiß die Großfamilie freilich gut versorgt. Der älteste Sohn ist schon bereit den Hof zu übernehmen, die Frau ohnehin noch damit beschäftigt das jüngste Kind zu stillen, Feministinnen aller Couleurs wird nicht gefallen, daß es wieder einmal gelungen ist (durchaus überzeugend!) darzustellen, daß heilige Extremisten eben nicht anders können als ihrer Berufung zu folgen. Pirmin Meier zeigt den Nikolaus aber nicht nur von einer verklärten Seite. Vielmehr deuten die Erzählungen den Nikolaus, teils auf Quellenmaterial, teils auf Sekundärliteratur fußend, als einen Grenzfall von Erwähltsein und pathologischem Zustand (S. 275). So hält sich hartnäckig das Gerücht, Nikolaus von der Flüe habe rund zwanzig Jahre keine Speise mehr zu sich genommen. Pirmin Meier berichtet von Quellen in denen beschrieben wird, wie der Einsiedler sich vom Atem der Besucher abwandte, da die Ausdünstungen der Essenden für den Nahrungslosen unerträglich geworden waren. Ohnmachtsanfälle, Visionen, die sowohl Gottesschau, als auch teuflische Begegnungen gewesen sein können, die menschenscheue Zurückgezogenrleit bringt der Autor mit einer epileptischen Erkrankung des Heiligen in Zusammenhang. Die aber nicht verhinderte, daß der Einsiedler ein für seine Zeit biblisches Alter von zirka 71 Jahren erreichte. Trotz der kümmerlichsten Unterbringung in dem Ranft, auf dem Lehmboden schlafend, mit dem Kopf auf einem Stein oder Holzstück.

Stichwort: „Zusammenhang". Als Auftragsarbeit des Kanton Luzern malt der Autor in dicken saftigen Pinselstrichen horizontal eine Breitwand-Geschichte der Innerschweiz des Spätmittelalters. Verliert sich hie und da über mehrere Seiten in Abhandlungen ganz anderer Themen, um deren Relevanz zu Bruder Klaus wieder hinterhältig überzeugend darzulegen. Weniger ausdauernde Leser und Leserinnen wären wahrscheinlich versucht das Buch zur Seite zu legen, zum freundlich kurzen Artikel im Lexikon zu greifen. Dem ausdauernd Weiterblätternden aber wird eine Geschichte erzählt, die für das 15. Jahrhundert außergewöhnlich und doch so bezeichnend ist. Die Suche eines Mannes nach seiner Gottesbegegnung. Gezeichnet von Zweifeln, Rückschlägen, kurzzeitigem hohen Ansehen und Vergessenwerden durch die Zeitgenossen. Die Geschichte eines Schwierigen, der immer viel einfacher dargestellt wurde. Über den seine Grabinschrift berichtet: Anno 1467 ist der seelig bruder clauss gegangen von wib undkinden in die wildegott dienet 20 halb jar ann libliche spiss ist storben an s. benedict tag anno 1487.

ICH BRUDER KLAUS VON FLUE

Eine Geschichte aus der inneren Schweiz Von Pirmin Meier. Ammann Verlag, Airich 1997. 5 S8 Seiten, geh., öS 467,-

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