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Gefiederte Ratten?

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AKBAR, DER GROSSMOGUL, hielt sehr darauf, daß sich niemals weniger als 20.000 Tauben in seinen Schlägen tummelten. Der Wesir Abu Fazil berichtet ausführlich über diese Marotte seines Herrn, der sich als einer der ersten mit planmäßigen Versuchen, Tauben miteinander zu kreuzen, befaßte. Die Großstadt Wien mag drei- bis fünfmal so viele Tauben beherbergen wie die Taubenschläge des Großmoguls Akbar, doch was in den Dachstühlen ihrer alten Kirchen nistet, sich im Park um Brotkrumen balgt und die Denkmäler beschmutzt, ist alles andere als das Produkt planmäßiger Zucht. Es betrachtet auch kaum jemand hier die Tauben als besonders edle Geschöpfe. Im Gegenteil. Sie mußten es sich gefallen lassen, als „gefiederte Ratten“ bezeichnet zu werden.

Einerseits wird die Taube, mit einem Ölzweig im Schnabel, noch immer gerne als Friedensbringer dargestellt. Anderseits wird sie aber immer wieder zum Ausgangspunkt mehr oder weniger heftiger Debatten zwischen ihren Anhängern und Gegnern. Mit dem Ruf „Fort mit den Tauben!“ erklären ihr die einen den Krieg, während ihr die anderen mit Brotresten ihre Sympathie bekunden. Und oft auch mit sonstigen Abfällen aller Art, die das Tier weder verträgt noch frißt. Und die dann irgendwo im Park oder auf den Straßen liegenbleiben, sehr zum Mißvergnügen aller anderer Leute. Aber auch das Brot ist keine ideale Kost für Tauben, nirgends in der Natur ist Brot als Ernährungsbasis einer Tierart vorgesehen, und wenn die Taube vom Brot auch groß und fett wird — ihre Eingeweide wehren sich dauernd gegen diese Kost.

Denkmäler und Gehsteige, Fassaden, und leider auch die Mäntel und Hüte der Passanten bekommen ihn zu spüren. Ein Blick genügt —■ jeder weiß, was wir meinen.

WIE KONNTEN DIE TAUBEN überhaupt zum Problem werden? Wie konnten sie so überhandnehmen? Nun, die letzten zwei Jahrzehnte haben ihnen Lebensumstände beschert, die ihre Vermehrung außerordentlich begünstigten. In den unmittelbar auf den Krieg folgenden Jahren boten ihnen die Ruinen ideale Nistplätze. Als die Trümmer dann langsam verschwanden, mußten die Tauben zusammenrücken, dafür gab es immer mehr zu fressen. Von den Brosamen des Wirtschaftswunders leben auch sie in Saus und Braus. Daß es sich dabei im wahrsten Sinn des Wortes um Brosamen handelt, macht die Tauben erst zur Plage.

Man blicke nach Italien! In Italien, im Land der alten Bauten, empfindet man Taubenkot längst nicht als so lästig wie bei uns. Dort klagen die Kunsthistoriker nicht über die Zerstörung der Fassaden. Aber nicht psychologische, sondern sehr handfeste materielle Umstände sind an diesem so ganz anderen Verhältnis zwischen Mensch und Taube schuld. Der Mist der italienischen Tauben enthält nämlich viel weniger Säure als der Mist der Wiener Tauben. Er setzt den Fassaden nicht so zu. Der Grund: die italienischen Tauben werden weniger mit Brot und mehr mit Mais gefüttert als unsere.

Was nichts daran ändert, daß hier wie dort, in Italien wie bei uns, die chemisch außerordentlich aggressiven Abgase der Kraftfahrzeuge größere Gebäudeschäden anrichten als die Tauben. Auch die Experten im Wiener Rathaus geben diese Tatsache bereitwillig zu.

WAS HAT DIE TAUBE aber überhaupt in die Stadt gezogen? Was hat sie hier zu suchen, fern von der Natur, im grauen Häusermeer, in Straßenschluchten und auf Türmen? Hat sie sich damit nicht unendlich weit von ihren ursprünglichen Lebensbedingungen entfernt? Selbst der Spatz, ebenfalls seit langem ein Bewohner der Stadt, ist nach wie vor auf Bäume angewiesen. Die Taube nicht. Hat sie sich im Kampf ums Dasein der Zivilisation des Menschen so angepaßt?

Der Eindruck trügt. Dachstühle, Gesimse, Mauerlöcher erschienen ihr niemals fremd. In den steinernen Schluchten der Städte hat sie vielmehr sozusagen ihre Urheimat wiedererkannt. Die bröckeligen, reich verzierten Fassaden der Gründerzeit sind ihr ein idealer Lebensraum, denn die ganze Vielzahl der heute bekannten Taubenarten stammt hauptsächlich von der Felstaube ab, die man auch Stein-, Grotten- oder Ufertaube nennt und die sich nur noch an ganz wenigen Punkten der Erde in ihrer ursprünglichen Form erhalten hat. Auf den vom Atlantik umtosten Färöer-Inseln, auf den Shetlands, auf Juan Fernandez, auf dem Eiland Rennesö bei Stavanger — dort gibt es sie noch. Vielleicht auch irgendwo im Himalaja. Überall anders, in Irland ebenso wie auf den Uferfelsen von Nordafrika, in Persieh ebenso wie den ganzen italienischen Stiefel entlang, ist die Taube ein schillerndes Produkt ihrer jahrtausendelangen

Bekanntschaft mit dem Menschen, der bereits in grauer Vorzeit begann, sie zu zähmen. Der weit über hundert Hauptrassen herausgezüchtet hat, die alle auf zwei oder drei Arten wilder Felstauben zurückgehen. Der sie auf der Tafel ebenso liebte wie in seinen Mythen. Der ihr

Tempel errichtete und der sie briet. Manche Dörfer in Oberägypten scheinen mehr für die Tauben als für die Menschen gebaut, diese begnügen sich nämlich mit dem Erdgeschoß ihrer Häuser, im Oberstock hausen ausschließlich die Tauben.

ES HAT DEM MENSCHEN NICHT GESCHADET. Mit der Gefährlichkeit der Taube für die Gesundheit des Menschen, die von den Taubengegnern gerne ins Treffen geführt wird, ist es nicht weit her. Das Gesundheitsamt der Stadt Wien hat jedenfalls noch keinen Hinweis darauf gefunden, daß solche Gefahren wirklich bestehen könnten, wenn man von jenen Fällen absieht, in denen Leute die Vogelkrätze erwischt haben, die innerhalb weniger Tage ausgeheilt werden kann. Fliegen sind für die Gesundheit des Menschen mit Sicherheit gefährlicher als Tauben. Tauben tragen nicht so gefährliche Keime mit sich herum wie Fliegen und setzen sich auch, im Gegensatz zu den lästigen Summern, normalerweise nicht auf das Honigbrot auf dem Frühstückstisch.

Es bleibt das Problem der Belästigung und der unkontrollierten Taubenvermehrung, und man hat sich in Wien auf ein Kompromiß geeinigt. Auch Univ.-Prof. Dr. Marineiii, der Ordinarius für Zoologie an der Universität Wien, findet die Dezimierung der Tauben in vernünftigen Grenzen notwendig und richtig: „Nur einen Standpunkt kann ich ganz und gar nicht teilen, nämlich jenen: Da wir die Tauben nicht brauchen, können sie ruhig ganz verschwinden! Der moderne Großstädter hat sich schon genügend weit von der Natur entfernt. Er schneidet sich ins eigene Fleisch, wenn er alles verfolgt, was lebt, ohne ihm direkt nützlich zu sein.“

Das „Tauberivergiften im Park“ findet demnach statt. In den frühen Morgenstunden, wenn die Schulkinder noch nicht auf der Straße sind. Wir können nicht Kinder zur Tierliebe erziehen und sie zusehen lassen, wie Tiere getötet werden, auch wenn dies dann und wann nötig ist. Das Gift wirkt auf der Stelle: Brot, mit Blausäure präpariert. Der Tierschutz fand bisher niemals Anlaß zum Einschreiten gegen die Firma, die mit den Dezimie-rungsaktionen betraut ist.

Augenblicklich haben die Tauben

Schonzeit; die Jungen sind noch nicht flügge und es soll verhindert werden, daß sie verhungern müssen, weil die Alten nicht mehr zurückkehren.

DAS FAMILIENLEBEN DER TAUBEN ist übrigens, vermenschlicht betrachtet, vorbildlich. Wenn ein Männchen und ein Weibchen einmal zusammengefunden haben, bleiben sie auch beisammen, bis einer der beiden zugrunde geht oder aus irgendeinem Grund aus dem

Umkreis des Partners verschwindet. Die Versuchung zur Untreue scheint für Tauben nicht zu existieren. Bei der Partnerwahl zeigen Tauben nicht den geringsten Dünkel, es ist der echten, edlen, weil seltenen Felstaube vollkommen gleichgültig, ob sie sich mit einem in puncto Abstammung gleichwertigen Artgenossen oder mit einer Promenaden-, pardon, Fassadenmischung verbindet.

Interessant ist eine Beobachtung, die Professor Marinelli gemacht hat, als er eine Anzahl von Tauben, die zu Studienzwecken eingefangen worden waren, nach ihrem Geschlecht in zwei verschiedene Käfige einordnen wollte. Zu welchem Zweck er sich eine recht einfache und praktische Methode ausgedacht hatte. Bekanntlich wirbt der Tauber um die Gunst des weiblichen Tiers, indem er balzt. Sobald also in der bunt zusammengewürfelten Taubenschar ein Tier das andere anzubalzen begann, wurden die beiden herausgenommen — der Balzende kam zu den Taubern, der passive, umworbene Teil zu den Weibchen. Hinterher stellte sich heraus, daß der erste Käfig tatsächlich ausschließlich Männchen enthielt, Taubenweibchen können einfach nicht balzen. Im zweiten Käfig aber ging die Balzerei bald von neuem los. Ein Teil der Männchen hatte sich offenbar in der Adresse geirrt.

Bemerkenswert ist die Flugtüchtigkeit unserer Stadttauben, auch wenn sie mit den Leistungen der reinen Wildtauben nicht ganz mithalten können. Kein Wunder, letztere mußten sich ja zum Teil zu einem richtigen Zugvogeldasein bequemen. Die in den europäischen Nordländern ansässigen Tauben verlegen ihren Wohnsitz in der kalten Jahreszeit in den sonnigen Süden, machen da und dort Rast und fliegen mit den bodenständigen Tauben, dem Vernehmen nach, gemeinsam ein paar Runden.

Auch die Stadttauben sind ausgezeichnete Flieger. Immer wieder gelingt ihnen im letzten Augenblick der Schnellstart vor einem herannahenden Fahrzeug. Abgesehen von solchen Extravaganzen beschränken sie sich auf kurze Erwärmungsflüge am Abend und am Morgen; sie könnten, vom Hunger angetrieben, ohne weiteres quer über die Stadt fliegen, und dies ohne Rast zweimal hintereinander, und sie könnten dabei wieder schlank und elegant werden, aber da ihnen genug Futter vor dem Schnabel liegt, lassen sie's bleiben.

WERDEN ES IHRER WIRKLICH ZU VIELE? Ist es nötig, ihrer Vermehrung Einhalt zu bieten? Wir haben eine Reihe, von Stellungnahmen eingeholt. Ergebnis: Nicht einmal der Präsident des Wiener Tierschutzvereines ist bedingungslos gegen eine Dezimierung, anderseits fand sich aber auch im Lager der eingeschworenen Taubenfeinde kaum einer, der für die totale Ausrottung eingetreten wäre, getreu dem Motto, Tauben seien gefiederte Ratten. Das Problem besteht also offenbar nur darin, das richtige Maß zu finden. Und zwar das richtige Maß bei der Dezimierung, weil es unmöglich ist, die Taubenfreunde unter der Wiener Bevölkerung davon abzuhalten, ihren Lieblingen reichlich Futter zu streuen.

Doch wenn schon dezimiert werden muß — es muß nicht immer Gift sein. Der Blausäure fallen ohnehin nur rund 10.000 Tauben pro Jahr zum Opfer, das ist vielleicht ein Zehntel der Gesamtzahl. Sympathischer ist die Taktik, den Lebensraum der Tauben zu beschränken.

Auf dem Dachboden der Wiener Universität allein nisteten einst hunderte Taubenpaare. Seit die Luken vergittert wurden, besitzt die Alma mater nur noch höchstens zwanzig gefiederte akademische Bürger. Wiens Kirchtürme waren Taubenparadiese — Netze aus Kupferdraht dämmten die Plage ein. Die leerstehende, verfallende evangelische Garnisonskirche war jahrelang ein einziger, riesiger Taubenschlag, über den sich die Leute immer wieder beklagten — heute steht nur noch ihre Fassade, dahinter wird ein moderner Neubau errichtet. Die letzten Ruinen fallen — darunter mancher „neuralgische Punkt“ der Taubenplage.

TROPFEN AUF DEN HEISSEN STEIN? Keineswegs, denn die Zahl der Wiener Bauten, die aus irgendwelchen Gründen zu gefürchteten „Taubenschlägen“ wurden, ist nicht so groß wie man glaubt. Und es gibt Tricks, die Zahl der Schlaf- und Nistplätze noch weiter zu verringern.

So wurden bei Renovierungen waagrechte Gesimse durch abgeschrägte ersetzt und hunderte Tauben waren mit einem Schlag „obdachlos“. Keine beschmutzten Gehsteige, keine verätzten Hüte und Mäntel mehr. Zum Schutz der Denkmäler wiederum dachte man sich eine besonders wirksame Maßnahme aus, die bei der Renovierung der Pestsäule auf dem Graben zum erstenmal ausprobiert wurde. In alle Vorsprünge, auf denen man vorher die Tauben dichtgedrängt hatte sitzen sehen können, wurden kleine Drahtspitzen eingesetzt. Sie leisten heute den gleichen Dienst wie ein riesiges, das Kunstwerk einhüllendes Netz. Die Tauben konnten auf ihren Sitzplätzen nicht mehr „landen“, begriffen innerhalb von kürzester Zeit, daß weitere Versuche zur „Besiede-lung“ der Pestsäule hoffnungslos sind und meiden sie seither völlig. Ein wenig Privatinitiative unter den Wiener Hausbesitzern, abgeschrägte Gesimse, vergitterte Dachluken, und die Wohnungsnot unter den Tauben würde akut.

GRAUSAM? Niemand braucht zu befürchten, daß die Tauben der augenblicklich lebenden Generation darob vor Gram eingehen könnten, aber sie hätten weniger Platz zum Nisten und würden ihre Fruchtbarkeit den Gegebenheiten anpassen. Das wäre besser als Gift. Und besser als so manches andere, manchmal empfohlene, leider nicht brauchbare Mittel gegen die Taubenplage.

Und die wahren Tierfreunde unter den Wienern sollten das Füttern der Tauben mit Brot einstellen. Körnerfutter ist nicht so teuer.

Und den wilden Taubenfängern, die lebende Wiener Tauben lange Zeit nach Italien exportiert haben und die, von den Tierschützern belangt, „an höherer Stelle“ überraschendes Verständnis fanden, sollte man endgültig das Handwerk legen, falls sie noch immer unterwegs sein sollten. Denn auf diese Weise wünscht Wien nicht gegen die Tauben vorzugehen, selbst wenn sie zeitweise zur Plage werden.

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