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Gotthelf und unsere Zeit

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„Wer wahrhaftig ist, der saget frei, was recht ist, und ein wahrhaftiger Mund bestehet ewiglich." Diese Inschrift, aus den Sprüchen Salomos, ergreift uns immer wieder, wenn wir in Lützelflüh am Grabe von Albert Bitzius stehen, an der letzten Ruhestätte dieses tapferen Gegners des kulturkämpferischen Liberalismus, des kampffrohen Christen und Pfarrers, des großen Volkserziehers und genialen Dichters, dessen sterbliche Hülle am 25. Oktober vor 100 Jahren hier der Erde übergeben wurde (geb. 4. Oktober 1797, gest. 22. Oktober 1854). Lützelflüh ist ein Bauerndorf im ber- nischen Emmental, von wo aus Bitzius zwei Jahrzehnte lang weit über die Schweizer Grenze hinaus gewirkt hat. Persönlich reiste er von seinem Pfarrdorf wohl zuweilen nach Bern und Basel, selten aber hat er in diesen Jahren die Landesgrenzen überschritten. Er lebte zumeist unter Bauern in einer Zeit großer geistiger und politischer Umwälzungen, die ihn in reiferen Jahren zum Bücherschreiben trieben (1835 bis zu seinem Tode). Zuerst bedeutete ihm die Schriftstellerei das einzige Ventil, nachdem dem unbekümmerten Kämpfer von der Obrigkeit und den Kollegen aus alles Wirken beschränkt worden war; später schrieb er auch rein aus dem Bedürfnis, schöpferisch zu gestalten.

Bitzius’ Blick reichte nicht in feme Kontinente, aber um so tiefer in die Seele des Menschen, in die Geschichte und in seine eigene Zeit. Mit wachsamen Augen verfolgte er das menschliche Treiben, und die große Angst um den damals aus allen göttlichen Ordnungen fallenden Menschen führte ihn zur Volks- schriftstellerei. Mit seinen Erzählungen wollte er die schlafenden Zeitgenossen wecken. Schonungslos deckte er Abgründe auf, und aus der Fülle seiner Erfahrangen und Gesichte stellte er wahres, gelebtes christliches Dasein dar: Männer und Frauen, die zuerst mit kleinem, unbedachtem Schritt aus den großen, christlichen Ordnungen treten und dann fallen und fallen, bis irgendein Anruf Gottes — meist durch Menschen gesprochen — sie zur Umkehr reißt, zu einem neuen Leben im Ange sicht des Herrn. Jenemias Gotthelf heißt der Held seines ersten Bfuches; in diesem Namen, der als Autorname auf ihn selbst übertragen wurde, liegt das ganze Werk dieses Dichters beschlossen: Jeremiats ruft klagend den in der Welt sich verirrenden Menschen an und verweist ihn auf seinen Urgrund und sein Ziel, Gotthelf.

Seit den dreißiger Jahren unseres schicksalsträchtigen Jahrhunderts ist eine ganz neue Wertschätzung für- den großen Schweizer Dichter erwacht. Wir Sehen ihn heute als Propheten zu Beginn einer Epoche stehen, in der Natur, Technik; Wirtschaft und Staat das Humane verschlungen haben, das ja nur aus der Begegnung imit dem Göttlichen lebt. Dieser alle Realitäten wd Ideen menschlichen Daseins umfassende Dichter sah mit Grauen den Sturz des Menschen taus seiner göttlichen Heimat ins Nichts. Unermüdlich, immer einsamer werdend, hielt er, in seinen dichterischen Gestalten der Welt (den Spiegel vor, einer Welt, die erst heute wieder wagt, hineinzuschauen und die Gesichter (zu erkennen, die in ihrer Gottferne Fratzen . geworden sind, und andere, auf denen immer von neuem unendliches Licht seine Strahlen sendet.

Zu der ersten Gruppe von Gotthelf« Büchern (1813 5 bis 1840) gehören vor allem — der explosionsartigen Entstehung entspr«- chend — Anklagen, wie z. B. gegen das Vee- dingkindwesein („Bauernspiegel") und gegen die Mißstände in der Schule und der Lehrerausbildung. Aber awh bei solch kritischen Werken überwiegt die Gestaltung gelebten Lebens alle Theorie. In den vierziger Jahren entstanden die bedeutendsten Dichtungen, voll und farbig iron sinnenhafter Wirklichkeit, nnd gleichzeitig ,tiefste Sinnbilder ewiger Gesetze, die für den! aufmerksamen Leser sich im ganzen und einzelnen der Komposition enthüllen. „Geld und Geist" ist das leuchtendste Beispiel eines FamHienzerfalk und Wiederaufbaus au« den Kräften der Wahrheit und der Liebe, jenen Kräften, die erst im Angesicht des Tode« so recht erblühen. In den beiden Bänden „Uli der Kneclit" und „Uli der Pächter" wird das tnühevolle Ringen einer Knechtsnatur um Bestehenkönnen im sozialen Aufstieg dargestellt, der ihm nur durch die Hilfe seiner starken und wesentlichen Frau zum Segen wird. In „Anne Bäbi Jowäger" hat Gotthelf die Kurpfuscherei uf allen Gebieten des Lebens zum Thema genommen, während im „Geltstag" Lebensformen dargestellt werden, die zum totalen Bankrott menschlichen Daseins führen. „Käthi die Großmutter" wird das Hohelied der Armut genannt, und in der „Käserei in der Veh- freude" enthüllt sich die neu gegründete Genossenschaft als Prüfstein jedes Dorfbewohners.

Daneben hat der Dichter eine große Zahl von kleineren Erzählungen geschrieben (teils i® knappster Form wie „Die schwarze Spinne" oder „Eisi, die seltsame Magd", teils in gemächlicher Ausweitung der Themen), die das ewige Geschehen zwischen Welt und Gott an den Problemen des Alltags sichtbar machen.

Tn den wenigen Jahren von der Jahrhundertmitte bis zu seinem Tode hat der Dichter mit einer Leidenschaft ohnegleichen den Kampf um das wahre christliche Menschsein gegen eine sich selbst vergottende Welt aufgenommen („Zeitgeist und Bernergeist", „Der Schuldenbauer); daneben blühten aus diesen letzten Jahren Lebensbilder reiner, stiller Idyllik („Der Besuch", „Der Sonntag des Großvaters”, „Das Erdbeermareili" usw.), Kleinode von ergreifender Geklärtheit.

Dies dichterische Werk erlebt nun eine Renaissance, weil es genial geschaffen, vom Zeitlosen kündet und damit dem heutigen Menschen, der in der Gebundenheit an Zeit und Welt diese Ketten sprengen möchte, die Tore auftut, an die er jahrzehntelang kaum mehr zu klopfen wagte. Ein gereinigter Text in einer in Einzelbänden erhältlichen Neuausgabe (Rentsch-Verlag, Erlenbach-Zürich) ermöglicht großen Leserkreisen, diese Werke kennenzulernen. In einem Predigtband und sechs Bänden interessanter Briefe tritt uns der lebenssprühende Dichter, Kämpfer und Prophet immittelbar gegenüber.

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