6642484-1958_03_10.jpg
Digital In Arbeit

Haben Romeo und Dulia gelebt?

Werbung
Werbung
Werbung

Legenden sind unzerstörbar. Sie sterben allenfalls von selber, indem sie vergessen werden, aber sie sind nicht zerstörbar. Es hat wenig genutzt, dafj man nachwies, die „Unbekannte aus der Seine“ sei nicht die Totenmaske einer jungen Selbstmörderin, sondern die Lebensmaske eines Mädchens um 1840. Der Geschäftstrick eines Berliner Kunsthändlers und das sentimentale Buch „Die Unbekannte“ von Reinhold Conrad Muschler waren stärker; sie woben eine neue Legende, die noch heute geglaubt wird. Vielleicht sollte man Legenden auch gar nicht zerstören, weil jede von ihnen dichter, poetischer, wirkendereisf als tausend Fakten, und weil sie meistens die Liebe umkreisen. Fakten gibt es übergenug auf der Welt, Liebe nur wenig. Gleichwohl reizt es den Kritiker, ein solches Gespinst aufzutrennen. Faden für Faden. Er darf es um so unbesorgter tun, als über Nacht, alle Fäden wieder zusammengewoben werden — als sei Penelope still am Werk.

Blumenspenden von überallher schmücken jahraus, jahrein in Verona die beiden Sarkophage, darinnen der Legende nach Romeo und Julia begraben liegen. Das im Tod vereinte Paar ist zum Sinnbild aller unglücklich Liebenden geworden, die Gruft zur Kult-sfätte für Menschen, die Aehnliches erleiden. Ferner zeigt man dem Fremden in Verona ein altes Haus, das folgende Inschrift trägt: „Dieses war das Haus der Capuleti, aus dem Julia hervorging, die von so vielen empfindsamen Herren beweint und von so vielen Dichtern besungen worden ist.“ Im Innenhof des Hauses, über dem Torbogen, befindet sich ein in Stein gemeifjeltes Käppchen, ein Cappelletti, welches angeblich erhärtet, daf3 hier wirklich eine Familie Cappelletti oder Capuleti gewohnt hat, Um dem Gedächtnis nachzuhelfen: die ausweglose Tragik der Liebe zwischen Romeo Montecchi und Julia Capuleti (bei Shakespeare heifjen sie Montague und Capulet) gründet auf dem Umstand, dafj ihre Familien tödlich verfeindet sind; daraus ergibt sich dann die heimliche Trauung, Romeos entsetzlicher Irrtum und beider Selbstmord.

Soweit die Fabel; was sagt die Forschung dazu? Nun, sie enttäuscht — darin enttäuscht sie nie. Zunächst erfährt man, dafj im Jahr 1303, dem „Zeitpunkt“ der traurigen Begebenheit, das Haus nicht einer Familie Capuleti, sondern einem Apotheker namens Del Cappello gehörte, der Heilpflanzen, Rhabarber und Wein aus Valpolicella verkaufte. Damit ist das steinerne Käppchen erklärt, denn cappello bezeichnet heute einen Huf, damals eine Kappe, und Via Cappello heifjf noch jetzt die Sfrafje, an der das Haus liegt. Der Versuch einiger Legendenretter, aus der Kappe ein Käppchen zu machen und das Veroneser Grundbuch zu fälschen, erweist sich als mifjlungen; ihr Gespinst zerreifjt. Doch es kommt noch schlimmer. Die Zeit um 1300, keineswegs vorgeschichtlich, lebt in einer Fülle von sfädlischen Urkunden fort. Keine von ihnen vermeldet jedoch eine Adelsfamilie Cappelletti oder gar Capuleti, und das will heifjen, dafj eine solche nie in Verona gelebt hat. Mithin entfällt auch das Nachgrübeln darüber, wie Romeo auf den gleichfalls im Innenhof des Hauses befindlichen Balkon — auf „Julias Balkon“ — gelangt sein könnte. Dieser ist nämlich beim besten Willen nicht zu erklettern; wir haben es an Ort und Stelle ausprobiert.

Auch literarhisforisch läfjf das Gewebe sich auftrennen. Shakespeares Trauerspiel ist die Krone eines poefischen Stammbaumes, den man seit langem kennt — mit Ausnahme seiner Wurzeln. Den Stoff zu „Romeo und Julia“ hat der Brite einer Novelle des Italieners Matfeo Bandello entnommen. Dieser hat ihn von dem Historiker Luigi da Porta und dieser wiederum von dem Novellisten Masuccio de' Guardafi. In Italien wandern die Dinge gern von Hand zu Hand; dichterische Motive, nahmen s', davon nicht aus. Woher aber hat Masuccio den Stoff? Ja, das weih mon eben nicht und. wird es wohl nie erfahren, weil die Geschichte der beiden Liebenden, die an der Feindschaft ihrer Sippen zugrunde gehen, eine ewige, eine immer sich wiederholende, eine menschheitliche Geschichte ist. Den Einfall, die Liebesleute in Verona anzusiedeln, hatte Luigi da Porta; ihre Namen sind gleichfalls seine Erfindung, und da er „Historiker“ war, nahm man sie für authentisch. Bei Masuccio heifjen die jungen Leute noch Marioffo und Gianozza, und ihr Schicksal vollzieht sich nicht in Verona, sondern in Siena.

Die Fabel von Romeo und Julia ist also durch mindestens drei Hände gegangen, bevor der Löwengriff des Genies nach ihr farjte. Dem Gröfjten, Shakespeare, gehört sie rechtmäfjig, weil er sie am gewaltigsten ausgeformf hat. Zudem hat er bewirkt, dafy Romeo und Julia, die nie in Verona lebten, nunmehr dort leben, für alle Zeiten und sogar rückwirkend, denn Kunst ist erhöhte Wirklichkeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung