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Die Stadt der Freude

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Die Welt ist nirgends außer diesen Mauern. Nur Fegefeuer, Qual, die Hölle selbst.

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Die Welt ist nirgends außer diesen Mauern. Nur Fegefeuer, Qual, die Hölle selbst.

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Von hier verbannt, ist aus der Welt verbannt, und aus der Welt verbannt — das ist der Tod.

Shakespeare: Romeo und Julia

Diese Verse stehen — in englischer und italie- , nischer Sprache — auf einer schlichten Marmortafel, die vor wenigen Tagen auf der inneren Stadtmauer Veronas, an der Piazza Bra, angebracht wurde. Sie ist nicht die einzige Tafel in Verona, die Verse aus der Tragödie Shakespeares auch äußerlich mit dem 0rt verbindet, auf den sie Bezug haben. So ist eine andere an der Mauer von „Julias Haus" befestigt, nahe jenem hofseitig gelegenen kleinen Balkon, unter dem der Legende nach Romeo seine Geliebte erwartete.

SHAKESPEARE WAR NIE IN VERONA

Immer wieder stößt man in Verona auf Gebäude, die einem von Shakespeare her vertraut sind. Doch Shakespeare, der zwei seiner Dramen hier spielen läßt, war nie in Verona. Wenn man kleinlich ist, kann man ihm den einen oder anderen topographischen Irrtum vorhalten (so gibt es keinen „Hafen von Verona"). Wer aber tiefer sieht, spürt, daß er — Wunder der Dichtung — Charakter und Atmosphäre dieser Stadt so sicher erfaßt hat, wie es nur einer kann, der liebt. Und wie er Verona geliebt haben muß, die Heimat seiner Capulets und Montagues, so liebt Verona ihn, als wäre er Veronese.

Dabei hat Verona selbst einen Dichter von Weltruf hervorgebracht: Catull. Wie man aus Ausgrabungen weiß, stand das Haus seines Geschlechtes, der Valerii, am Hügel von Castel San Pietro, nicht weit vom Römischen Theater, wo es eine „Galerie des Catull“ gibt. Er selber freilich wird dort nie gesessen sein: Das Halbrund des Römischen Theaters wurde aller Wahrscheinlichkeit nach ej t in der festfreudigen Aug -

, stėischeri' kett’efbätit, niclitin'clefKriegertsclien Cäsars. Es ist heute noch ausgezeichnet verwendbar. Kaum ein Sommer vergeht, in dem hier nicht Shakespeare gespielt wird.

Heuer wurde hier von einem italienischen Ensemble unter Sandro Bolchi „Julius Cäsar“ aufgeführt. Anschließend war eine englische Truppe zu Gast, die Oxford Playhouse Company, die den „Sommernachtstraum" gab. Mir ist das Römische Theater in seiner Intimität noch lieber als das riesige Oval der Arena. Die Architektur ist hier vielgestaltiger, zugleich heimeliger und geheimnisvoller, mit verborgenen Plätzen. Am Fuße des Stadthügels gelegen und ihn hinaufkletternd, auf der Bühnenseite durch die Etsch von der Stadt geschieden, bildet dieses Theater eine Welt für sich, in der der Geist der Antike rein erhalten geblieben ist.

ZU HAUSE IN DER VERGANGENEN ZEIT

Ueberall in Verona fühlt man sich zu Hause in der vergangenen Zeit, die hier nicht vergangen ist. Jeder Gang ist da ein Gang durch die Jahrhunderte, jeder Stein hat Geschichte. Von der Antike kommt man in die Zeit der Scaliger, der bürgerlichen Fürsten Veronas, von der Renaissance ins Barock. Oft haben sich an einem Platz, wie etwa an der saalartigen, vollkommen rechteckigen Piazza Dante, viele Zeiten zu einem harmonisch gewachsenen Ganzen vereint, dessen Dach der Himmel ist.

Die Veroneser Architektur ist .sich immer ihrer Tradition bewußt gewesen; nie verliert sie sich in lärmenden Prunk. In den vielhundert großen Portalen der Bürgerhäuser und in den Toren wiederholt sie die weiten Bögen der Außenarkaden der Arena und gibt so der Stadt etwas ungemein Römisches. Dankbar bemerkt der Fremde, daß viele Straßenzüge für den Autoverkehr gesperrt sind, und wünscht, daß dieser im ganzen Zentrum nicht zugelassen wäre. Es genügt, auf den großen alten Steinquadern der schmalen,' -winkeligen Gassen, . auf der . Via Mazzini etwa oder der Via Cappello, zu promenieren oder in einen der stillen Höfe zu treten, um den ganzen Zauber Veronas zu spüren. Auch ohne den Reiz der rührenden Legende von Romeo und Julia ist sie eine der schönsten Städte der Welt.

BRIEFE AN JULIA

Doch ist diese für uns von der Stadt nicht zu trennen. Noch heute treffen — das nun soll keine Legende sein — Briefe an Julia in Verona ein, in' denen Liebende aus aller Welt sie um Rat und Hilfe bitten r- wie eine Heilige. Irdische Unsterblichkeit! ....

Es gibt in und. um Verona nichts, das nicht auch nach den beiden Liebenden benannt ware. !Gari ‘ fii ?stättiSiTfS, ’ CampiūgpfSlžE ’ — alles mögliche heißt „Romeo e Giülietta", und'in der Casa di Giülietta, in Julias Haus, residiert heute — Zufall oder Symbol? — der Fremden- verkehrSverein, Ente Provinciale per il Turismo.

Verona lebt aber nicht nur vom Fremdenverkehr. Es ist eine lebendige Stadt, hat große Geschäftshäuser, Banken, Kinos usw., von denen die meisten in alten Palästen, in Renaissanceoder Barockbauten untergebracht sind. Es ist keine Hotelstadt, wie etwa Lugano. Seine (die Vororte einge'schlossen) 200.000 Einwohner lassen sich, soviel Fremde. auch kommen mögen, nicht an die Wand drängen; ihr Lebensrhythmus bestimmt den Stundenplan der Stadt.

DIE BERÜHMTEN PFIRSICHE

Die Veroneser leben zum großen Teil, direkt oder indirekt, von der Landwirtschaft. Alljährlich findet in Verona eine Internationale Landwirtschaftliche Messe statt, daneben ein Pferdejahrmarkt, eine Viehmesse, eine Gartenbau- und Obstausstellung. Die Provinz Verona ist berühmt für ihre Pfirsiche. Hier wachsen die meisten und köstlichsten Pfirsiche Italiens; im August gehen täglich hundert Waggons mit Veroneser“ Pfirsichen über den Brenner, nach Oesterreich, Deutschland, Skandinavien. Daneben ist die Provinz Verona berühmt für das Oel ihrer Olivenberge am Gardasee und ihre Weine Bardolino, Soave, Valpolicella und Valpantena.

Im Süden der Städt ist in der Nachkriegszeit eine ausgedehnte Industriezone entstanden, hier befinden sich Getreidemagazine und Gefrieranlagen für Gemüse und Obst. Im Norden liegen die wertvollen Marmorbrüche von Sant Ambrogio.

Die Veroneser sind ein freundlicher, gastlicher, lebensfroher Menschenschlag. Einer der Scaliger der große Can Grande I., war es, der dem. ?, aus į Florenz ..verbann ten Dante gastlich Aufnahme bot. ’Der Name ’klingt nach in dem Professor Zangrandos, des inspirierten Freundes und Förderers deutscher Dichter, der in Verona Lesungen von Rudolf Hagelstange, Georg Brit- ting, Otto von Taube, Georg von der Vring'veranstaltete. Zangrando ist auch der Verfasser des schönen Buches „Verona in der deutschen Dichtung“.

VERONA VERSTEHT ZU FEIERN

Verona versteht es, wie wenig andere Städte, Feste zu feiern. Die beiden Höhepunkte im Jahreslauf bilden der traditionsreiche Karneval mit dem „Baccannale del Gnocco“, an dem alle Stadtviertel teilhaben, und die Opernsaison im Juli und August. Diese Feste werden nicht für die Fremden veranstaltet — so herzlich sie dabei willkommen sind —, sondern aus keinem anderen Grunde als der Lebensfreude. Verona ist eine Stadt der Freude — ihr sichtbarstes Zeichen sind vielleicht die Cerini, kleine Kerzen oder Wachszündstäbchen, die die Besucher auf den Rängen der Arena entzünden, wefirt auf der Bühne das Spiel beginnt, und die dann, nach und nach erlöschend, das Auditorium noch bis weit in den ersten Akt hinein erhellen.

Der’Opernabend in der Arena ist das große gesellschaftliche Ereignis der Veroneser. Hier trifft man Freunde, hier sieht man sich und wird gesehen. Das Publikum im Parkett erscheint meist in Abendkleidung, in den langen Pausen — die bis zu einer halben Stunde dauern — strömt es hinaus auf die Piazza Bra, wo die Cafes und Restaurants bis in die Morgenstunden offen sind. Hier oder beim beleuchteten Springbrunnen sitzt man und trinkt Kaffee oder ißt zu Abend (Verona ist für seine Küche berühmt; nur sind leider die Preise für unsere Verhältnisse ziemlich hoch), plaudert oder geht durch die Grünanlagen. Das Publikum oben auf der Gra- dinata, auf den Steinstufen, bringt Brot und Wein Japgep Pausen kürzen. Zeitungs-, Zigaretten-'und Erfrischungsverkäufer ziehen umher. Das Publikum- auf den Rängen ist BegeiSterungsfähiger als das im Parkett. Die „Bis!"-Rufe („Noch einmal!") nach einzelnen Solopartien oder nach Balletteinlagen sind oft so stark, daß der Fortgang der Oper für eine Weile aufgehalten wird.

Keine Vorstellung hört vor halb zwei Uhr nachts auf. Dann kann man immer noch im Freien sein Glas Wein trinken — die sternklaren Nächte sind warm, aber nie schwül — oder auf dem Heimweg auf der Piazza dell’Erbe, dem Kräuterplatz, wo es unzählige Stände mit Obst und Gemüse gibt, schnell noch eine Melone essen. Die halbe Stadt ist bis zwei Uhr auf den Beinen, die großen Cafes halten offen, die Neonreklamen leuchten, die Menschen promenieren.

DIE STADT SPIELT MIT

Aber die Oper ist nicht nur ein Schauspiel für die Stadt, viele ihrer Bürger spielen selber mit. Da- sind einmal die 600 oder 700 Statisten, die in der „Macht des Schicksals“ Krieg führen und. eine wilde Schießerei inszenieren oder im „Troubadour" zu Fuß oder zu Pferde über die Bühne paradieren, wobei die Pferde vor lauter Feuerwerk nicht immer stillhalten wollen. Und dann sind da die Laienchöre, gebildet 'aus einfachen Arbeitern, aus Handwerkern und Angestellten. Noch jeder Dirigent, der zum erstenmal für eine Opernaufführung in die Arena verpflichtet wurde, war überrascht über’das Stimmaterial und die Klangreinheit dieser Chöre. Nach den Neapolitanern gelten die Veroneser als diejenigen unter den Italienern, die mit der größten musikalischen Intuition begabt sind.

Es ist eine Besonderheit der Veroneser Aufführungen, die Wirklichkeit möglichst getreu auf die Bühne zu nehmen, Sein und Schein, Welt und Bühne zu vereinigen. So werden auf ihr richtige Lagerfeuer entzündet, alte Haubitzen abgefeuert, Pferde — zuweilen auch Elefanten, wie zuletzt 1?55 in „Aida“, ziehen über den Schauplatz, der Umbau der Kulissen — die weitgehend der Architektur der Stadt ähneln — findet bei offener Szene statt. Es wäre falsch, den Wert dieser Aufführungen nur im Kuriosen oder Quantitativen zu sehen, so faszinierend etwa die Massenregie sein mag. Was hier auf der Bühne geschieht, gibt dem Theater eine Dimension wieder, die es in der abendländischen Welt leider allgemein verloren hat.

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