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Max Reinhardt wurde, wenn ich nicht irre, die Sentenz zugesprochen, Festspiele, die Aktionen unter freiem Himmel ins Programm miteinbeziehen, seien in der Praxis nur südlich der Alpen durchzuführen. Gewiß hatte zu solcher Überlegung schon damals das Faktum beigetragen, daß Max Reinhardts „Je-dermann“-Inszene vor dem Salzburger Dom nicht weniger häufig abgesagt werden mußte als heute, also bereits vor rund 50 Jahren das Wetter ein bemerkenswerter Un-sicherheitsfaktor war (und geblieben ist).

Indes vermag der Chronist den Leser mit einer außergewöhnlichen Entdeckung zu überraschen. Sie konnte heuer in Italien gemacht werden, anläßlich des 51. Festivals dell'opera lirica in Verona. Verdis „Simone Boccanegra“ hätte die sechswöchige Stagione am 14. Juli eröffnen sollen, Puccinis „La Boheme“ wird am 26. August den Schlußpunkt Setzen, immer vorausgesetzt, daß der Wettergott mitmacht.

Ihm zu mißtrauen erwies sich schon am ersten Spieltag als ratsam. Während die aus aller Welt angereisten Kritiker bei einer Pressekonferenz den Plänen und programmatischen Erklärungen der für die Stagione verantwortlichen Herren lauschten, wuchs sich die klimatische Betrübnis langsam, aber sicher zu einem Landregen aus. Der für den Raum Österreich zuständige Manager, Georg Manhardt, blickte ratlos über Campari, Orangensaft und Sekt hinweg zum Fenster hinaus, schüttelte den Kopf und beteuerte, so etwas noch nicht erlebt zu haben. Ich tröstete ihn mit der Reinhardt-Sentenz, doch er hörte kaum zu, er überschlug wohl schon den Verlust, den die Misere ohne Zweifel im Gefolge haben mußte, und ließ zwischendurch vernehmen, daß er sich einer ähnlichen Situation nicht entsinnen könne.

Als der Regen endlich und schließlich nachließ und ganz aufhörte, war es zu spät. Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn konnten die durchweichten Sitzplätze nicht mehr „trookengelegt“ werden ... Reinhardt hatte freilich nur zum Teil recht behalten.

Dafür ging anderntags nach einem Platzregen mit Gewitter-Intermezzi, die indessen zeitgerecht aufhörten, der (nicht vorhandene) Vorhang über der Arena hoch und gab die Bahn frei für den Start von Amilcare Ponchiellis Melodrama „La Gioconda'“. Mir war das Werk, das durch seinen „Tanz der Stunden“ im Rundfunk Mittagskonzert-Popularität gewann, als komplette Oper zum erstenmal in New York begegnet, bei der Eröffnung der neuen Metropolitan Opera im Lincoln Center.

Die Wiederbegegnung in Verona wurde vor allem durch die Architektur des Schau- und Hörplatzes geprägt — und durch eine zwischen Hochamt, Heldenvergötterung und Hurra-Patriotismus hin- und herpendelnde Reaktion des italienischen Publikums, das hier „ganz Mensch sein“ durfte (und begeisterungsfähiger Südländer noch dazu). Als Carlo Bergonzi, hervorragend bei Stimme, seine erste große Arie mit baritonalem Schmelz selbst in den Tenor-Regionen gesungen hatte, mit prachtvollem Mezzavoce und tragenden Pianotönen, brach ein gut fünf Minuten währender Jubelsturm aus; das Dacapo war unvermeidlich: Ein Volk, dessen populärste Helden die Opernsänger sind, feierte sich selbst.

Und die „Fremdlinge“ in der vieltausendköpfigen Menge gingen begeistert mit; hatten sie doch zum Ohrenschmaus auch noch das große Spektakel der südländischen Opern-und Stimmen-Fans mitbekommen — mit Sitzpolster-Vermietung gleich zu Beginn und ungeheurem Gelati-Konsum in der fast halbstündigen Pause; mit aufsteigenden Taubenschwärmen zum Entree der Oper und Leuchtraketen zu deren Finale...

Solch just dn seiner Naivität umwerfendes Selbstportrait verdiente den gut viertelstündigen Beifallsdank am Ende. Verona, die prachtvolle Stadt, geheimnisträchtig wie Palermo, spielte prächtig mit. Kein Wunder, denn durch Marcel Prawy haben wir vor Jahren erfahren, daß Shakespeares widerspenstiges Käth-chen auch von Cole Porter nicht aus ihrer Heimatstadt entführt werden konnte.

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