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In Banden

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Wir bitten Dich, o Herr, erhöre gnädig unser Flehen: löse uns von den Banden der Sünde und behüte uns vor allem Unheil.

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Wir bitten Dich, o Herr, erhöre gnädig unser Flehen: löse uns von den Banden der Sünde und behüte uns vor allem Unheil.

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(Kircbengebet am Sonntag Quinquagesima) .

Seif sich die wegen ihrer Deutelei von Goff aus der Wolke zurechtgewiesenen Freunde des leidenden Hiob mit allem menschlichen Scharfsinn um eine Lösung bemühten, ist diese innere Frage unter den Menschen nicht verstummt: Die nach dem zwar verborgenen, dennoch aber ergründbaren Zusammenhang von Schuld und Leid, von Sünde und Unheil. Es geht uns dabei heute weniger um die äußere Folgewirkung. Ganz so einfach wie der gewiß verehrungswürdige Abraham a Santa Clara können wir es uns nicht mehr machen, indem wir der öffentlichen Sünde die öffentliche Strafe als direkte und errechenbare Folge gegen überstellen. In einer der rührendster Stellen des Alten Bundes (Jon 4, 11 wird einem solchen primitiven Radika. lismus des eifernden Propheten, de für das sündige Ninive die allgemeine Vernichtung fordert, die Stimme des Herrn entgegengesetzt, der voll Mitleid von denen spricht, die „nicht wissen, wo links und rechts ist". Wenn wir ein Wort unmittelbar auf unsere Welt übertragen wollen, dann dieses. Wir leben im Grunde nicht in einer ausgemacht und erklärt sündigen Welt, sondern vielmehr unter Millionen, die nicht wissen, was überhaupt Sünde ist. Und doch lebt die dumpfe, fragende Angsf — je abergläubischer und glaubensferner sie ist, desto lastender — unter uns allen: das unerklärliche, mit den Heiden gemeinsame Gefühl, daß wir eine zürnende Gottheit erst zu besänftigen und zufriedenzustellen haben, ehe wir von ihr den so ersehnten Schutz, die Sicherheit, nach der wir auch hier gieren, erwarten können. Und das Gebet der Kirche trifft die Situation noch deutlicher, wenn es nicht von dieser oder jener Einzelschuld, dieser oder jener bestimmten und durch einen moralischen Willens-

akt zu überwindenden Sünde spricht, sondern ganz einfach von den Banden der Sünde, einem Zustand des Gefesseltseins, der Verstrickung, dem wir durch keine einzelnen Willensakte entrinnen können. Aber das Gebet vermeidet jeden Folgezusammenhang, weil es weiß, daf} wir ihn nicht erkennen können. Wir können keinen Zustand völliger Lösung von den Sündenbanden erreichen, zu „Reinen" und Puritanern werden, die dann gleichsam automatisch als ein neues „auserwähltes Volk” auch den Schutz vor Unheil als eine Art Rechtsanspruch geltend machen wollen. Die Wahrheit unserer Lage sieht anders aus. Wir können in ganz demütigem Vertrauen nur nebeneinander um beides beten; Daf} uns Gott durch Seine Gnade aus der Verstrickung befreien, aus unserer Blindheit, die in uns wenigstens noch nicht das Wissen, blind zu sein, ertötet hat, erlösen möge. Und daf} derselbe Goff, an dem wir auch als vermeintlich Sündenlose ähnlich dem Hiob keinen Anspruch auf besondere Privilegien stellen können, uns in Gnade vor jenem Unheil bewahren möge, das wir, ebenso wie alle Menschen um uns, in vielerlei Art drohen sehen. Wir sind mit diesem kreatürlichen Gebet um nichts besser dran als die andern auch. Die ganze, nun vor dem Ende stehende Vorfastenzeit hat ja besonders bezweckt, uns die allgemein menschliche Grundbefindlichkeit, die condition hu- maine, vor Augen zu führen: die Schöpfung, den Sündenfall, den Brudermord, die Sintflut und schließlich das Bild des Mannes aus der großen Stadt, Abram aus Ur im Heidenland, der nichts anderes tat, als einfach zu folgen, von jener Stunde an, da der Herr den schon alt gewordenen Durchschnittsmenschen plötzlich rief. „Wie ein Zugtier", heißt es über diese Frömmigkeit im 72. Psalm, einem der lebensnahesten des ganzen Psalters übrigens. Das alles liegt noch im Vorhof des eigentlich Christlichen. Erkennbar, vollziehbar für jeden.

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