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Jahrhundertwende — Fin de siecle

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SO WAR'S UM NEUNZEHNHUNDERT.Mein Fin de siecle. Von Annie Franc e-Harrar. Albert-Langen-Georg-Müller-Verlag, München-Wien, 1962. 222 Seiten. Preis 14.80 DM. — DIETARNOWSKA. Roman von Hans Habe. Verlag Kort Desch, Wien-Münchcn-Basel, 1962. 640 Seiten. Preis 28 DM.

Als Fünfundsiebzigjährige auf ihr reiches Leben zurückblickend, gibt uns Annie France-Harrar, wie sie sich ausdrückt, „dreißig Schattenbilder von der letzten Jahrhundertwende“. Die Aufzeichnungen, durch das Bewegte des Autobiographischen erhellt, reichen allerdings von dem Blickpunkt des „Fin de siecle“ weit bis in unser Jahrhundert herein. Doch schafft die Verfasserin mit den Beispielen der klar umrissenen Persönlichkeiten ein gewichtiges Gesamtbild der zahlenmäßigen Zeitenwende, der sie ihre Erinnerungen widmet. Sie bewährt dabei eine hohe Fähigkeit, die

einzelnen Gestalten zu formen, ein tiefgründiges Wissen und einen sarkastisch gewürzten Witz. Auf solch Art wird das Buch — worin auch eine Anzahl sehenswerter Lichtbilder eingestreut ist — anregend für denjenigen, der sich gerne der Vergangenheit zuwendet.

Das Fin de sUcle erscheint der Verfasserin nach ihren Beobachtungen gekennzeichnet durch den Glauben an die Vernunft und durch das Freidenkertum, verbunden mit staatsbürgerlichem Konservatismus, durch Maximen der Gründerära, im Weiblichen durch den Begriff der

„unverstandenen Frau“, auf dem Theater durch handfeste Wirklichkeit, in der bildenden Kunst schon damals durch den Mangel an technischer Beherrschung. „Im Fin de siecle“, sagt sie schließlich, „haben wir uns in den Fortschritt geflüchtet“, und indem sie vorwärts blickt: „Am Ende ahnt der Fortschrittsstiefel von sich aus, wohin er will? Wir wissen doch nicht den richtigen Weg.“ Die Persönlichkeiten, denen sie ihre Erinnerungsblätter widmet, sind ihr Vater, der polnische Maler Alexander Sochaczewski, ihr Gatte, der Biologe Raoul H. France, und dann eine durch Zufall und Bestimmung zusammengefügte Reihe bemerkenswerter Zeitgenossen, Strindberg, Meyrink, Arno Holz, Roda Roda, Erich Mühsam, Spengler und ander Auch Hans Habes „Die Tarnowska“ spielt, deutlicher noch als das Buch von Annie France-Harrar, um die Jahrhundertwende, auch hier ist von Tatsächlichem die Rede, von Menschen und Ereignissen aus der Wirklichkeit. Doch zieht es Habe vor, seinem sachlich vollkommenen gesicherten Bericht die ansprechende Gestalt eines spannenden Romans zu geben. Er sagt in der Einleitung, ihn selbst hätte die

Jahrhundertwende immer angezogen, diese Kindheit unserer Zeit, rätselhaft wie unsere eigene Kindheit. Ein Sachverständiger bei Gericht erklärt, es wäre ein schuldbeladenes Jahrhundert, wahrscheinlich auch das letzte, in dem die Männer den größten Teil der Schuld trugen. Aber im zaristischen Rußland,' dessen Gefüge bereits zu zerbrechen droht, spricht man vom guten Jahrhundert, das im Sterben läge und dem die Erde leicht werden möge. Das Buch, durch das schon Siegmund Freuds Psychoanalyse geistert, bildet die seelenkundlich untermauerte Geschichte einer hemmungslosen Frau, die bewußt oder auch unbewußt die Männer, die sich ihr nähern, in namenloses Unheil stürzt und zuletzt selbst, von den Netzen der Justiz eingefangen, elend zugrunde geht. Habe schrieb das Buch nach zweifellos gründlichem Studium der Ereignisse. Aber nicht alles entspricht den Anforderungen, die der gute Geschmack zu stellen berechtigt ist. Zum Besten des Buches zählt die großartige Zeichnung der Umwelt, Venedigs und des zaristischen Rußlands. Sehr lebendig muten auch die in Wien spielenden Szenen an.

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