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Kein Goethe-Plagiat
Es muiei uns neuie merewuraig an, daß Goethe einmal Heinrich Leopold Wagner, den betriebsamen Mitläufer der Stürmer und Dränger, des Plagiats beschuldigt hatte, weil in dessen «echsaktigem Trauerspiel „Die Kindermörderin“ (1776) Motive aus dem ein Jahr zuvor erschienenen „Urfaust“ zu finden waren. Wie Gretchen bringt Evchen Humbrecht am Ende ihr Kind um, wie Gret-chens Mutter wird auch Evchens Mutter zuvor durch einen Trunk eingeschläfert und das verführte Mädchen schließlich seinem Elend überlassen. Der leichtfertige Verführer ist hier freilich kein Faust, sondern ein Leutnant von Gröningseck, ganz im Sinne der Sturm-und-Drang-Dramatik, die Wesentliches aus dem Drama des Naturalismus vorweggenommen, die Tugend auf der Seite des Bürgertums, das Laster dagegen auf der des Adels gesehen hat. Wagner stellte also das Schicksal des verführten Mädchens durchaus im Sinne der Zeit dar, in der sich an einem Preisausschreiben über die Frage: „Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindermord abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen?'' die namhaftesten Juristen von damals beteiligt haben. (Auch Wagner war praktizierender Anwalt in Frankfurt.) Gewiß richtet sich sein Drama — der Zeittendenz folgend — gegen die gesellschaftliche Mißachtung des Bürgertums, das unterlag, „weil es nicht zum freien Menschentum erzogen war“. Doch wird darin nicht etwa nur ein „Ruf“ ruiniert, sondern der Sturz eines Menschen gezeigt. Mit Mitteln freilich, die — auch nicht im entferntesten an Goethes Gretchen-Tragödie heranreichend — aus der Vorratskammer der alten Temperamentscharakteristik des Sturm und Dranges stammten.
Unter dem Titel „Die Kindsmörderin“ eröffnete nun das Volkstheater mit dem Stück seine neue Spielzeit. Um mehr zu geben als theatralisch bewegte Literaturgeschichte, fertigte sich Regisseur Gustau Manker eine eigene Fassung an und stellte das (nach Goethe) „bretterrechte“ Publikumsstück mit seiner „fast naiv schnurgeraden Abwicklung“ auf kräftige, manchmal auch derbe Bühnenwirkung ab. Es ergaben sich dabei freilich manche gar zu eigenwillige Akzentverschiebungen: So erfährt zum Beispiel das Publikum nie, daß der Abschiedsbrief des Verführers Gröningseck nicht von ihm, sondern von einem seiner Freunde geschrieben ist, die durch eine Intrige seine reumütige Rückkehr verhindern. Die reichliche Gelegenheit, die das Stück dem Schauspieler zur Entfaltung bietet, wurde gut genützt. Hervorzuheben: Ingrid Fröhlich als sentimental bewegtes und am Ende rührend tragisches Evchen, Herbert Probst als polternder, in seiner Bürgerehre schwer gekränkter Hausvater Humbrecht, Dorothea Neff in einer Episodenrolle als Lohnwäscherin, Ernst Meister als skurril gutmütiger Magister. Peter Hall füllte die schon vom Autor nur im Ansatz individuell charakterisierte Rolle des Verführers halbwegs aus, während Hilde Sochor als Hum-brechtin einige Male übertrieb und die übrigen Darsteller die Glaubwürdigkeit zumindest nicht störten. Gewiß ließe sich eine andere, das Schauerballadenmäßige des Stückes mehr überhöhende, stilisierende Inszenierung denken. Doch das Publikum war auch so, nach einigem Befremden, von den Darstellern gepackt und bedachte sie sowie den Regisseur mit anhaltenden Beifall.
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