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Klassizität des 19. Jahrhunderts

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In den letzten Jahrzehnten ist neben dem Historiker immer stärker der Briefschreiber Jacob Burckhardt in den Vordergrund des Interesses getreten. Ein richtiger Instinkt — und eine echte Sehnsucht führt das Publikum zu der Persönlichkeit dieses Mannes, die in ihrer schaubaren Größe und klaren Begrenztheit die Faszination des Klassischen ausübt. Als Humanist (man denkt an Erasmus), als Basler (vergleiche das Vorwort), als tief einsamer Mensch, der den Abstand zu seiner Umwelt kühl und schmerzlich zugleich in jeder Stunde erlebt, hat sich Burckhardt in seinen Briefen ein europäisches Denkmal gesetzt. Der Kluge, Umsichtige mag um diese Bedeutung seiner Briefe gewußt haben, mit der ihm eigentümlichen Entschiedenheit vernichtete er selbst Briefe, die er nicht bestehen lassen wollte.

Der vorliegende erste Band dieser ersten kritischen Gesamtausgabe — unentbehrlich als Textkommentar zum ersten Band der Kaegi-schen Biographie, ist von Herausgeber und Verlag aufs sorgfältigste betreut worden, im Bewußtsein hier die Obhut über ein Schweizer Nationaldenkmal übernommen zu haben. Die 82 vorliegenden Briefe werden expliziert durch einen getrennt gedruckten philologischkritischen und historischen Apparat (das Schaubild wird so nicht zerrissen durch Fußnoten, Burckhardt selbst hätte wohl seine Freude an dieser Anordnung gehabt), ein Register der Adressaten, ein chronologisches Verzeichnis der Briefe. Die Illustrationen, zum guten Teil Bleistiftskizzen Burckhardts, weisen aufs Schönste auf den Inhalt hin. Es ist Burdihardts „romantische“ Zeit, im bewunderten Deutschland, im Berlin Kuglers und Rankes. Reisen und Studien der Wanderjahre, Begeisterung für das deutsche Mittelalter! Und die schwere innere Krise, in der sich der Sohn des Basler Antistes entschieden von der Theologie löst. Vergleiche Brief 22 an Riggenbach 1838: „Heute bin ich endlich draufgekommen, daß er (der Theologieprofessor Dewette) Christi Geburt durchaus für einen Mythus hält — und ich mit ihm. Ein Schauer überfiel mich heute, als mir eine Menge Gründe einfielen, weshalb es ja beinahe so sein müsse. Ja, Christi Gottheit besteht eben in seiner reinen Menschheit“ (S. 84/5). In wenigen Worten des persönlichen Bekenntnisses die Tragödie seines Jahrhundertsl Im selben Jahr enthüllt er, an denselben Freund, das Drama seines Lebens (S. 97): „Mein Leben ist nicht so wolkenlos gewesen, als es Euch geschienen, und jeden Augenblick würde ich mein Leben gegen ein Niegewesensein vertauschen, und wenn's möglich wäre, in den Mutterleib zurückkehren, obschon ich kein Verbrechen begangen habe und unter günstigen Verhältnissen aufwuchs.“ 1842, an den Freund Gottfried Kinkel, über sein Zeitalter (S 201/2): „Alle Restauration, so wohl gemeint und so sehr sie der einzige Ausweg war, kann das factum nicht auslöschen, daß das XIX. Jahrhundert mit einer tabula rasa aller Verhältnisse begonnen hat.“ — „Ich erwarte noch überaus schreckliche Krisen, aber die Menschheit wird sie überstehen und Deutschland gelangt vielleicht erst dann zu seinem wahrhaften goldenen Zeitalter.“ „Man wird immer offener, immer ehrlicher werden müssen, und auf den Trümmern der alten Staaten wird die Liebe vielleicht ein neues Reich gründen.“ Naheliegend scheint es, von diesen

Jugendhoffnungen den Bogen zu spannen zu den Untergangsvisionen des Alters, in .den berühmten Briefen an Preen. Wachstum der Erfahrung, der Einsicht? Besitzt sie aber nicht bereits der junge Burckhardt im hohen Maße? Schwund, Verzehruna einer (christlich bedingten) Substanz des Glaubens und der Hoffnung, der ihn bekanntlich bewog, auf Ehe und Kinder zu verzichten, um sie der schrecklichen Zeit nicht als Opfer darbringen zu müssen...

Zwischen jener Hoffnung und diesen Befürchtungen aber breitet sich ein großes Leben, das nunmehr an Hand dieser Briefe immer noch stärker, leuchtkräftiger hervortritt. Neben unserem Stifter eines der wichtigsten Male eines großartigen Versuchs der Bewährung europäischer Individualität angesichts bebend ersparter, nahender Katastrophen. Die Klassizität des 19. Jahrhunderts.

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