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Mediale Mengenlehre

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Mit Worten", meinte Mephistopheles, „läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten!" Zu Zeiten des Weimarer Geheimen Rates und noch zwei Jahrhunderte danach ist das so richtig und aktuell wie vieles aus des großen Dichters Mund. Aber heute stimmt es fast nicht mehr. Denn die Systeme heutzutage werden mit Zahlen bereitet- und wer keine Zahlen für seine Worte zur Hand hat, der steht im Verdacht, sich keine Gutachter und Meinungsforscher leisten zu können.

Wer indes gegen nicht zu knappe Gage seine Probebohrung in die Volksmeinung niederbringen läßt, der erntet Genauigkeit bis zur zweiten Stelle hinterm Komma. Hierauf zückt der gegnerische Wort- und Systembereiter seine Expertise und beweist just mit jenen Dezimalstellen, auf die es ankommt, das glatte Gegenteil.

Worauf das System zusammenbricht und die ganze Diskussion mit in den Abgrund der Wortlosigkeit reißt. Was bleibt ist nur der flüchtige Eindruck der Dezimalstellen. Beim Wirtschaftswachstum, mit dem sich in Osterreich bekanntlich zwei seriöse Prognosen befassen, spenden diese Komma-Werte je nach Sympathie Trost oder Schrecken. Bei Wahl-Prognosen haben schon die simpelsten Hausfrauen-Wetten die raffiniertesten Computer übertroffen. Aber Komma muß sein. Das Sonderangebot meines traumhaften Nadelstreifs beläuft sich ja schließlich auch auf 999,95 Schilling.

Von der Peniblität solcher Rechenkunst nun zur Mengenlehre öffentlicher Menschenmassen. Hier entstehen merkwürdiger- und auffallenderweise beträchtliche Differenzen bis zu 200 oder 300 Prozent. Bei Meldungen über Demonstrationen, Open Airs, Menschenansammlungen aller Art ist es daher bei Zahlenangaben wichtig, die Quelle der Zählung, die ja nur eine Schätzung sein kann, zu kennen.

Wenn die Veranstalter von 10.000 Teilnehmern sprechen und die Exekutive nur höchstens 3.000 erblickt hat, so empfiehlt sich die Bildung des Durchschnitts, um der Wahrheit einigermaßen nahezukommen.

Veranstaltungsmeldungen aus geschlossenen Bäumen bieten relativ sichere Anhaltspunkt. Hunderttausende, die im Stephansdom für den Frieden beteten, sind eher metaphorisch gemeint. Hingegen reichten die 10.000, die das Praterstadion füllten, für solchen Andrang sicher nicht aus. Die Meldungen über die Teilnahme an den Mai-Aufmärschen auf der Ringstraße, als noch Sozialisten und Kommunisten um die proletarische Vorherrschaft wetteiferten, waren geradezu klassisch.

Vor den privatwirtschaftlichen Printmedien genießt der monopolisierte Rundfunk immer noch einen Vertrauens-Vorschuß. Rei den Studenten-Demonstrationen kürzlich

nahmen die Mengen vom Morgen gegen Mittag stark zu, fielen aber gegen Abend wieder ab. Wahrscheinlich ist das gar nicht so unrealistisch, denn um die Mittagszeit demonstrierten die Studenten am liebsten und zahlreichsten, während sich gegen Abend die Mitläufer verkrümelten und nur der harte Kern kampfbereit blieb. Solch stündliche Nachrichten-Anpassung ist den Printmedien versagt.

An einem dieser Studenten-Demo-Tage waren die jeweiligen Meldungen aus dem Hauptquartier bemerkenswert. Die Wiener Hochschülerschaft hatte 12.000 Protestierer auf die Beine gebracht, die Wiener Polizei jedoch nur deren 5.000 wahrgenommen. So viele Professoren und Assistenten können doch gar nicht mitmarschiert sein, daß sie die Polizei nicht als Studenten registrierte. Hat das Auge das Gesetzes 7.000 mal weggeschaut? Oder war der Euphorie-Faktor der Veranstalter zu hoch?

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