6709713-1964_15_03.jpg
Digital In Arbeit

Mord als „Untermenschen“-Vertilgung

Werbung
Werbung
Werbung

Mit Recht hebt Martin Broszat („Kommandant in Auschwitz“, dtv-Dokumente 114) bei Rudolf Höß als besonders erschreckend, aber auch besonders ergiebig für das Verständnis der allgemeinen sozialgeschichtlichen Entwicklung der ersten Jahrhunderthälfte in Deutschland hervor, daß an ihm keinerlei Grenze zwischen dem kleinbürgerlich-normalen Menschen und dem millionenfachen Mörder sichtbar werde. Die Ursache solcher auch in Österreich weit verbreiteter Grenzenlosigkeit gilt es zuerst aufzudecken. Sie rückt in Sichtweite, wenn von Broszat über Höß gesagt wird, ihm „gehe völlig der Sinn ab“ dafür, daß die nachträglichen Herzensergüsse im Stil billiger Illustrierter seinem millionenfachen Morden in Auschwitz die „frivolste Blasphemie“ hinzufügen.

Als Extremfall zeigt Höß, gleichsam in besonderer Konzentration (wenn dieses Wort hier überhaupt am Platz sein kann), was es in reichster Nuancierung hinter brauner und schwarzer Uniform, aber leider gleichzeitig und schon lange vorher auch in Zivil im Übermaß gab: eine Sinn- und Richtungslosig-keit, die zwischen Gut und Böse nicht zu unterscheiden gelernt hat; eine Wertlosigkeit, weil niemals eine lebendige Beziehung zu den Werten aufkam; zugleich aber eine latente Süchtigkeit, revoluzzerisch auszubrechen aus dem Gefängnis des dumpf als verlogen und verstümmelt empfundenen Alltags, die „verlogenen bürgerlichen Hemmungen“ hinter sich zu lassen, „das System hinwegzufegen“, vom verächtlichen Gestern über „den. Umbruch“ ein „neues Morgen“ zu erstürmen („Nun laßt die Fahnen fliegen / in das große Morgenrot...“). Der Mord am „Untermenschen“ im „industriellen Zuschnitt“, genormt, hygienisch und als Massenartikel, persönlich möglichst fern von Weinen und Schreien, Blut und Fäulnis (dies der eigentliche Sinn der jüdischen „Sonderkommandos“), ist leider die direkte Fortsetzung der pathetischen Gelöbnisse auf den Paukböden, des „Arierparagraphen“, eines „Antimarxismus“, der von Marx gerade den Namen wußte, einer „Sozialhygiene“, die mit Gedankenspielereien über Eugenik begann, sich bald der Sterilisation zuwandte und im vielfach übersetzten Getriebe der einmal anlaufenden Maschine selbstverständlich damit enden mußte, daß man „das Übel“ lastwagenweise auch in Gestalt von Säuglingen „den Flammen übergab“ wie einst die „schädlichen“ Bücher.

- Hermann Rauschning, der nationalsozialistische Senatspräsident in Darizi^, dem es gegeben war, sich rechtzeitig vom ungeheuren Sog nach unten freizumachen, hat diese dynamische Entwicklung in den Seelen als „permanente Revolution des Nihilismus“ bezeichnet. Ich muß sagen, daß es mir wie Schuppen von den Augen fiel, nachdem ich sein illegal importiertes Hauptwerk („Die Revolution des Nihilismus“) 1939 in einem Hörsaal der Wiener Universität unter unverdächtigem Romaneinband gereicht bekommen und das reich vorgelegte Material zur Philosophie und Motivationspsychologie des Nationalsozialismus kennengelernt hatte. Aber ich stand in diesem Moment durch die Gnade menschlicher Begegnungen und einer neuen, tieferen Bestimmung auf die überkommenen Werte längst zumindest mit einem Fuß in der unendlich offenen und lebendigen Welt, die den größeren, kleineren und kleinsten Eichmanns und Höß (doch wohl nicht nur durch eigene Schuld) für immer verschlossen geblieben ist. Worum es damals ging und genauso heute zu gehen hätte, ist der lebendige Kontakt mit den kontaktlosen und kontaktarmen Einzelgängern, die den Korpsgeist, den Gruppenkodex und die Kameradschaft nur deshalb der lebendigen menschlichen Begegnung vorziehen, weil sie sich gleichsam als seelische Contergan-Babies, als moralische Halbfabrikate zum angstvollen Sitzenbleiben verurteilt fühlen.

Hitler hatte eine wohlbegründete Scheu, den Namen Gottes auszusprechen. Der Begriff „Vorsehung“ bot sich ihm als Ausweg an, den kometenhaften Nimbus seiner persönlichen „Auserwähltheit“ mit dem allgemeinen kleinbürgerlichen Bedürfnis nach Untermauerung der „standesgemäßen“ Ansprüche durch nicht zu kräftige, dort eben vertraute metaphysische Zusatzkost in Beziehung zu setzen. Man wird kaum fehlgehen in der Behauptung, daß die „Vorsehung“ im Dritten Reich politisch und religiös keine größere Rolle gespielt hat, aber auch keine viel kleinere, als ihr seit Generationen im Herrgottswinkel der guten Stube eingeräumt worden war. Der „liebe Gott“ hatte, zusammen und fast identisch mit dem Christkind, neben allerlei Kitsch, zwar seinen gleich nützlichen wie sentimentalen Platz in der Kindheit gehabt; aber man ließ ihn, bei fast völliger Arglosigkeit, sonst nicht stark genug werden, als daß Er eines Tages hätte als lebendiger Gott das ganze

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung