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Ohne Gefühl läßt es sich leicht recherchieren

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Am schlimmsten aber sind Grenzländer. Sie bringen Fanatiker hervor und Verräter. Und sie sind Totenacker“ sagt der alte Slowene, der sich mit dem Zerfall seiner jugoslawischen Heimat nicht abfindet. Seine Tochter ist mit einem schon zwei Jahre verschollenen serbischen Offizier verheiratet, der Sohn ist Arzt und und stolzer Slowene, ein Onkel war Partisanenheld im Zweiten Weltkrieg, der Vater sucht in der Geschichte dieses Jahrhunderts nach Erklärungen für das herrschende Chaos.

Paul Blaha, selbst viele Jahre als Journalist und Kritiker tätig, und selbst Sohn einer Slowenin und eines Österreichers, hat nicht nur ein auf-► rüttelndes Buch über ganz aktuelle Ereignisse in unserem verschwundenen Nachbarland Jugoslawien geschrieben, das die Ohnmacht ausdrückt, mit der die westliche Welt -wiewohl Politiker unheilbringend intervenieren - diesem Konflikt gegenübersteht. Darüber hinaus hat er mit diesem Roman ein Grundproblem des Journalismus aufgezeigt: Solange man als Zuschauer recherchiert und den kühlen Kopf behält, ist es je nach Informationsstand noch relativ leicht, eine Wahrheit und die Schuldigen zu finden. Erlaubt man sich Gefühle und einen emotionalen Draht zu Informanten, wird es kompliziert. Eine objektive Beurteilung ist fast unmöglich, wenn das Weinen um Söhne und Ehemänner, der Hunger der Menschen und die Verzweiflung nach Vergewaltigungen und Flucht plötzlich in die eigene Familie hineindrängen. Wie kann Geschichte dann noch bewältigt werden?

Auch der amerikanische Journalist im Roman „Recherche“, der den alten, bitteren Slowenen trifft, ist auf der Suche nach Erklärungen: Er will den Familienroman seines verstorbenen slowenischen Vaters fertigschreiben und sucht nach authentischen Plätzen und noch lebenden Zeitgenossen in Maribor. In den Aufzeichnungen seines Vaters fand er Fakten über zwei befreundete slowenische Familien mit vielfältigen, mehr oder minder ausgeprägten politischen Überzeugungen: bürgerliche Monarchisten, adelige Linke, nationalistische Slowenen, Kroaten und Serben und so weiter. Alle sind in die politischen Wirren und Grenzkonflikte dieses Jahrhunderts verwickelt. Zusätzlich sind sie durch persönliche Beziehungen, Ehen, Liebschaften und berufliche Auf- und Abstiege mit wechselnden Vorurteilen behaftet und dazu bemüht, sich und ihre Kinder in den kriegsgeschüttelten Jahren irgendwie durchzubringen.

Im erst kurz zuvor gegründeten Staat Slowenien findet der Amerikaner mehr als 50 Jahre später die Nachfahren dieser Familien, die wieder mit unterschiedlichsten politischen Überzeugungen und tiefen innerfamiliären nationalen Gräben bemüht sind, mit ihren Kindern in der Kriegsund Krisenzeit irgendwie zu überleben. Es gibt Hochriegl- statt Krimsekt zu kaufen, Bahlsenkekse, es gibt österreichische Grundstücksspekulanten und illegale Waffenlieferungen an Kroaten und Serben.

Und ohne es zu wollen, wird der interessierte „Außenstehende“ zum Beteiligten. Er verliebt sich und ist gezwungen, seine geschützte Position der Recherche zu verlassen. Unfähig jeglicher Objektivität bei seiner Suche nach den Schuldigen am Balkankrieg, und unfähig, seine Entscheidungen noch selbständig zu steuern, besucht er Split, das zerstörte Mostar, mobile Ambulanzen der Hilfsorganisation CABE, und er versucht vergeblich, die unendliche Kette von Greueltaten, die immer wieder Vergeltungsgreueltaten hervorrufen, zu durchschauen.

Der alte Slowene droht an gebrochenem Herzen zu sterben: „Mein Sohn hält mir die hundertdreißig-oder hunderfünfzigtausend Ustasa und die zehn-, zwölftausend Domo-brancen vor, die uns die Engländer, als es zu Ende war im Mai damals, in Blei-burg ausgeliefert haben. Er hat recht. Ihre Knochen liegen zwischen hier und Maribor verstreut. Sie hätten mit uns dasselbe gemacht. Das ist unsere unbewältigte Geschichte. Ebenso wie die kroatischen Massaker in Bosnien, ebenso wie Titos Verbrechen auf dem Goli otok. Alles geht irgendwann einmal an unbewältigter Vergangenheit zugrunde.“

RECHERCHE

Roman von Paul Blaha.

9 Haymon Verlag, Innsbruck 1996. Wm 256 Seiten, geb., öS 280,-

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