Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“: Tiefenbohrung in die Vergangenheit
Raphaela Edelbauer entwirft in „Das flüssige Land“ den Albtraum eines versinkenden Ortes, der von seiner Geschichte eingeholt wird.
Raphaela Edelbauer entwirft in „Das flüssige Land“ den Albtraum eines versinkenden Ortes, der von seiner Geschichte eingeholt wird.
Die Nachricht, dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, verändert das Leben der Physikerin Ruth Schwarz radikal. Sie arbeitet an ihrer Habilitationsschrift über die „Blockuniversumstheorie“, eine Theorie der Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als gleichzeitig und real auffasst. Die Ich-Erzählerin weiß, dass sie die Beerdigung organisieren muss, erfährt allerdings von ihrer Tante, dass es der Wille ihrer Eltern war, in ihrer Heimatgemeinde Groß-Einland beerdigt zu werden. Sie packt Kleidung, Bücher, Laptop, Toiletteartikel und Psychopharmaka (von Beruhigungs- und Schlafmitteln bis zu Aufputschmitteln) zusammen und fährt los, um den Ort zu suchen, den sie nicht kennt und den es auf der österreichischen Landkarte gar nicht gibt. Aufgrund einiger Erinnerungen an Erzählungen der Eltern vermutet sie die Kleinstadt im niederösterreichischen Wechselgebiet und ihr wird klar, wie wenig sie über Groß-Einland weiß: „Die Vergangenheit schien uns einfach ohne jede Relevanz zu sein.“
Protokoll des Irrsinns
Diese Relevanz wird die Vergangenheit aber im weiteren Handlungsverlauf von Raphaela Edelbauers Debütroman „Das flüssige Land“ bekommen, denn die Vergangenheit ist eben nicht wirklich vergangen, sondern reicht bis in die Gegenwart, und ohne Vergangenheit gibt es auch keine Zukunft. Das gilt für die Protagonistin Ruth Schwarz und ihre Familiengeschichte ebenso wie für die Geschichte der fiktiven Stadt, die aus der Zeit gefallen ist. Ob Ruth Schwarz drei oder sechs Jahre in Groß-Einland verbringt, ist nicht zu klären, weil die Zeiten innerhalb und außerhalb der Stadt durcheinandergeraten. Ruth landet auf ihrer Zeitreise nach einer abenteuerlichen Fahrt durch einen Wald im pittoresk wirkenden Groß-Einland, das „sauber und heil“ aussieht und über dem ein Schloss aufragt. Doch das ist nur der Schein. Denn nach jahrhundertelangem Kalkabbau gefährdet ein riesiges wachsendes Loch die Statik der gesamten Innenstadt, die zu versinken droht. Risse entstehen in den Häusern, der Marktplatz sinkt täglich und ist nicht mehr begehbar, obwohl man wöchentlich Tonnen von Beton in die Schächte kippt. 1939 wurden die Schächte von der Wehrmacht übernommen und für die Munitionsproduktion und als Außenstelle des KZ Mauthausen geführt. Nach der Bombardierung 1945 beschloss man, die Trümmer mit Beton und Steinen zu überschütten und die Stadt nach alten Fotografien wieder neu aufzubauen, allerdings um einige Zentimeter verrückt.
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