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Rußland ist groß...

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Die Ueberlieferung ist nie ganz verstummt, daß

Zar, Alexander I. auf der Höhe seines Ruhmes —

Bisa ve/zehrt. von Gewissensqualen wegen des Schuldhatten Beginns seiner Herrschaft, die auf der Ermordung seines Vaters gründete — sich 1826 in Taganrog für tot erklären ließ, um in Sibirien ein Leben der Sühne und Buße zu führen. Ob Legende oder Wirklichkeit — für die literarische Gestaltung ist dieses Geschehen ein großartiger Vorwurf, den niemand tiefer und umfassender aufgegrffen hat als Reinhold Schneider in seiner Erzählung „Taganrog“. Schneider geht es, neben der heimlichen persönlichen Schuld Alexanders, die alle seine späteren Taten befleckt, noch um das Problem der mit der Macht beinahe zwangsläufig verknüpften Schuld. Er rollt diese Zusammenhänge mit einer Klarheit und unerbittlichen Folgerichtigkeit auf, mit der Wortmächtigkeit und Gestaltungskraft des Dichters, daß andere Versuche zum gleichen Thema es schwer haben, neben ihm zu bestehen.

Das gilt auch für Gustav Keckeis' Roman „Fedor“, der mit der Verwandlung Alexanders in Fedor Kusmitsch beginnt, jenen Wanderer auf sibirischen Landstraßen, der den Armen und Leidenden zu helfen sucht. Keckeis sieht in seinein Fedor nicht so sehr den Büßer, der frühere Schuld sühnen will, sondern, wie es einmal heißt, einen „Abenteurer guten Willens“, der Glanz und Schein der Macht von sich geworfen hat, um sein Menschentum zu retten. Aber dieses Problem wird von viel romanhaftem Beiwerk überwuchert, so daß wir das Buch in die Kategorie der gehobenen Unterhaltungslektüre einreihen möchten.

Im Zwielicht, obwohl in unserer Zeit abgelaufen, liegt auch das Schicksal der jüngsten Zarentochter Anastasia, deren jetzt vorliegende angebliche Aufzeichnungen, verbunden mit Dokumenten zur Frage ihren Identität, die Rätsel um diese Frau ebensowenig lösen wie frühere Versuche. Eine bewußte Schwindlerin ist die Schreiberin eejjriß nicjjtij flir Kampf um iiire Anerkennung ist eher ungeschickt als raffiniert, lind wenn man ihr Verhalten und ihre Reaktionen, wie die Aufzeichnungen sie spiegeln, unvoreingenommen betrachtet, spricht vieles dafür, daß sie die Großfürstin Anastasia sein könnte, nicht zuletzt die ganz intimen persönlichen Erinnerungen, für die es kaum eine andere plausible Erklärung gibt. Im übrigen wird das Interesse des Lesers an der Frage: Ist sie es oder ist sie es nicht? allmählich in den Hintergrund gedrängt durch die Anteilnahme an dem menschlichen Schicksal dieser Frau, das ein tragisches ist, auch wenn man nur die in ihrem Leben übersehbaren Geschehnisse einbezieht, also die Spanne von dem Berliner Selbstmordversuch 1920 an. Die lahre in der Irrenanstalt Dalldorf, schwere Krankheiten, Intrigen fragwürdiger russischer Emigranten um das Mädchen, die in eindeutige Feindschaft abgleiten, nachdem der erwartete klingende Lohn ausbleibt; das zermürbende Hin und Her in der Einstellung von Verwandten der Zarenfamilie gegenüber Anastasia, deren Verhalten in vielen Fällen von höchst eigennützigen Gesichtspunkten bestimmt wird — die bei der Bank von England angelegte Millionenerbschaft des Zaren spielt keine geringe Rolle dabei I

Das alles sind trostlose Erfahrungen, die einen Menschen hätten zerbrechen können. Diese Anastasia aber, so schmerzlich sie auch gelitten hat, ist nicht zerbrochen. Heute kämpft sie nicht mehr und sucht auch nicht mehr die Bestätigung ihres verlorenen Ichs durch die Welt. Sie trägt ihre Einsamkeit in der kleinen Schwarzwaldhütte, die ihre Heimat geworden ist, mit Gelassenheit und mit Haltung — eine menschliche Leistung, die zählt, wer immer sie auch sei.

Das Reich Gottes in den böhmischen Ländern.

Geschichte des tschechischen Protestantismus. Von Rudolf ft i c a n. Ins Deutsche übersetzt von Bohumir P o p e 1 ä f. Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart.

Es geschieht wohl nicht alle Tage, daß — so wie hier — ein Buch im heutigen Böhmen eigens für die deutsche Leserschaft geschrieben wird. Wenn es doch geschieht, ist es eine Propagandaschrift; das ist die vorliegende Arbeit durchaus nicht. Es handelt sich um eine wirklich geschichtliche Schilderung. Der Autor beschreibt den böhmischen — nicht nur den tschechischen — Protestantismus im Sinn des kalvini-schen Bekenntnisses und der Brüderunität. Die zweite Tradition in Böhmen ist das lutherische Augsburgische Bekenntnis, dessen ursprüngliche Bekenner Nachkommen der Hussiten waren. Es ist verständlich, daß ein Geistlicher der seit 1918 vereinigten evangelischen Brüderkirche den blutigen Gegensatz, welcher zwischen Hussiten und Brüdern ursprünglich bestand, zugunsten der Gemeinsamkeit mildert. Immerhin versetzt er den lutherischen Mitchristen manchen kleinen Stich: so mit der geschichtlich hochinteressanten Erklärung, wie die Lutheraner die Polonisie-rung von Teschen gefördert haben. (In Polen herrschte Toleranz, während Mähren ganz rekatholisiert war.) Schon aus diesen wenigen Stichworten errät man, daß hier Kirchengeschichte mit politischer Geschichte untrennbar verwoben ist, wie das ja bei dem tatsächlichen Geschehen in Böhmen nicht anders darzustellen war. Der Autor selbst gehört aber beileibe nicht zu den allzuvielen, für die religiöse Motive nur Verbrämung nationaler Belange sind. Im Gegenteil: mit religiösem Ernst und geschichtlicher Objektivität urteilt er über einen gewissen antirömischen Affekt in Böhmen. Er spricht es sehr deutlich aus, daß sehr oft unchristlicher Chauvinismus und schlechthin irreligiöse Gesinnung am Werke war; daß man die Namen der vergangenen religiösen Bewegungen eitel nannte, um durchaus weltliche Absichten und Stimmungen auszuschmücken. Der Trennungsstiich zwischen der bibelgläubigen evangelischen Kirche und der Tschechoslowakischen Kirche, die ein politisches Nebenprodukt der Ereignisse von 1918 war, wird mit aller Deutlichkeit gezogen. — Daß der mit dem Sozialismus kollaborierende Professor Hromädka nachdrücklich gelobt wird, versteht sich wohl von selbst.

Ein schätzbarer Vorzug des Buches ist das umfangreiche Verzeichnis der einschlägigen „Literatur in Auswahl“. Das Deutsch der Uebersetzung ist gut.

Dr. Karl Schwarzenberg.

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