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„Sensation“

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In der Villa d’Este in Cernobbio am Comersee, einem Treffpunkt der mondänen Gesellschaft Oberitaliens, kracht während einer mitternächtlichen Modevorführung plötzlich ein Schuß. Ein Herr in weißem Sommersmoking stürzt tot zu Boden, eine schöne junge Frau in elegantem Abendkleid hält einen rauchenden Revolver in der Hand. Sensation! Wenige Stunden später kennt ganz Italien die beiden Namen. Die zweiunddreißigjährige Gräfin Pia Bellentani, verheiratet und Mutter zweier kleiner Mädchen, hat den ebenfalls verheirateten Mailänder Großindustriellen Carlo Sacchi erschossen, weil er seine Gunst einer anderen Dame der Gesellschaft zugewandt hat. Eine Tragödie, die zugleich blitzartig die zerrütteten Ehe- und Moralauffassungen im Gefolge zweier Weltkriege und zweier Nachkriegszeiten erhellt.

Aber was dann kommt, ist vielleicht noch grauenhafter. Die italienische Presse, vor allem die seit Kriegsende nach angelsächsischem Muster entstandenen illustrierten Zeitschriften, bemächtigen sich des Stoffes, schmücken durch Wochen die Titelseiten mit Großaufnahmen der Mörderin, füllen das Innere ihrer Blätter mit reich illustrierten „Tatsachenberichten“ aus der Vorgeschichte der Tragödie, wobei nicht nur die beiden Hauptgestalten, sondern auch der Gatte der Mörderin, die Gattin des Ermordeten und jene andere Frau, um derentwillen der Ermordete die Mörderin verließ, in das Rampenlicht der Öffentlichkeit gezerrt und vor den Augen der Öffentlichkeit moralisch entkleidet werden. Der „Fall Bellentani“ nimmt in einem Großteil der Presse des Landes nun schor seit Wochen einen Raum ein, hinter dem die Behandlung der wichtigsten außen- und innenpolitischen Fragen, die Beratung des Staatshaushalts, die Parlamentsdiskussion über die italienische Außenpolitik und das Ringen um den Weltfrieden weit zurücktreten.

Den Gipfel der Geschmacklosigkeit aber erklimmt ein Blatt, das auf seiner Titelseite ein Bild von der Hochzeit des Ehepaares Bellentani vor neun Jahren bringt: „Als Pia noch glücklich war..Gewiß, die Presseleute kennen ihr Publikum: sie wissen, daß ihre „Tatsachenberichte“ aus dem Privatleben der „eleganten Welt“ auch von den Lesern und Leserinnen aus den breiten Volksschichten begierig verschlungen werden. Wohl haben sich auch, nicht zuletzt von religiöser Seite, Stimmen zu Wort gemeldet, die dieses schamlose Treiben in verdienter Weise verurteilen und auf die gefährlichen Folgen hinweisen. Niemand aber hat sich anscheinend bis jetzt gefragt, wie denn diese zahlreichen Photographien und „Informationen“ den Weg in die Redaktionsstuben gefunden haben. Die eindeutige Antwort enthüllt vielleicht die für die Gesellschaft unseres Jahrhunderts beschämendste Tatsache. Es können nur Angehörige desselben Kreises, „Freunde der Familie“ gewesen sein, die, in geschäftstüchtiger Ausnützung der Hochkonjunktur, aus dem Unglück ihrer Freunde klingenden Honorargewinn schlagen. Eine aufwühlende Bestätigung des Satzes: „Homo homini lupus“ — „Der Mensch ist dem Menschen Feind.“

Künftige Geschichtsschreiber der kriegerischen Epoche, die mit dem Jahre 1914 begonnen hat. werden sich nicht wie die Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts über einen Mangel an Memoiren beklagen können. Schon türmen sich Erinnerungswerke der verschiedensten Regisseure des großen Welttheaters zu einer schwer übersehbaren Menge auf. Aber wenn einst — in hoffentlich nicht zu ferner Zeit — der Morgen einer neuen befriedeten Welt heraufsteigt und aus einer großem Distanz sich das Interesse an den tausend Einzelheiten und geheimen Hintergründen überstandener Wirren und Kämpfe verflüchtigen mag, wird noch immer die von Winston Churchill überlieferte Geschichte dieser Epoche von Blut und Tränen als historisches Dokument wie als literarisches Kunstwerk Geltung bewahren. Kaum ist der Kriegslärm erst halb verklungen, läßt dieser unermüdliche Mann seinem Werke „Die Weltkrise“ (vier Bände) und „Nach dem Kriege“ eine großangelegte Darstellung der Ursachen und des Verlaufes der Katastrophe von 1939 bis 1945 folgen*. „Als Ganzes werden diese Bücher“, schreibt Churchill im Vorwort, „falls das vorliegende Werk beendet wird, die Geschichte eines zweiten Dreißigjährigen Krieges umschließen."

Es gibt kaum irgendwelche andere Memoiren, die mit gleicher Autorität das politische wie das militärische Gebiet behandeln. Als Geschichtsschreiber führt Churchill einen taciteischen Griffel. Seine Einsichten und Erfahrungen sind weltumspannend. Seine Urteile werden durch die Leidenschaft, in denen sie oft gebadet sind, nur um so anziehender gemacht, und auch darin mag man ihn dem Tacitus vergleichen. Wie dieser schreibt er zudem als Lehrmeister seiner Nation. So hat er sich in dem ersten Band seines neuen Werkes, das jetzt auch in deutscher Sprache vorliegt (Alfred-Scherz-Verlag, Bern) und worin unter dem Titel „Der Sturm zieht auf“ die politische Entwicklung während des zwanzigjährigen Waffenstillstands von 1919 bis 1939 einer scharfen Prüfung unterzogen wird, offenbar die Aufgabe gestellt, seine Landsleute vor den Fehlern zu warnen, die Großbritannien durch Langmut und Konzessionen gegenüber der fortgesetzten Aggressionspolitik Hitlers begangen hat. Mit der ganzen Wucht seiner Diktion weist Churchill nach, daß gegenüber einer Macht, die sich über eingegangene Verpflichtungen, die anerkannten Regeln des Völkerrechts und alle Gebote internationaler Loyalität mit Akten der Gewalt hinwegsetzen zu dürfen glaubt, ein Pazifismus um jeden Preis nicht nur eine wirkungslose, sondern auch eine gefährliche Methode ist, durch die eine solche Macht nur bestärkt wird, in ihren Aggressionen fortzufahren. Diese Methode erreicht am Ende das Gegenteil dessen, was sie erreichen will; nicht die Bewahrung des Friedens, sondern den unausbleiblichen Sturz in einen Konflikt auf Leben und Tod. In fester Haltung von allem Anfang an, in der Entschlossenheit, Vertragsbrüche nicht zu dulden und Gewalt zurückzuweisen, im furchtlosen Bestehen auf den Grundsätzen des internationalen Rechts und auf den Bestimmungen freiwillig geschlossener Vereinbarungen, darin liegt allein die Gewähr, den Frieden zu erhalten, denn eine solche Politik verhindert beizeiten den zügellosen Bedroher der bestehenden Ordnung, sich gefahrlos des Vorsprungs eines Erfolges zu bemächtigen, und ist geeignet, sein Ansehen zu erschüttern, allen seinen Widersachern einen moralischen Rückhalt zu bieten und so unter Umständen seinen Sturz herbeizuführen.

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