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Visionen eines ungarischen Patrioten

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DIE ROTE POSTKUTSCHE. Roman. Vod Gyula K r ü d y. Aut dem Ungarischen von

Gyorgy Sebestyen. Mit einem Nachwort des Übersetzers. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien-Hamburg. Leinen, 460 Seiten. 8 130.—.

Dem österreichischen Romancier ungarischer Herkunft, György Sebe-styen, gebührt das Verdienst, ein Standardwerk der ungarischen Literatur, nämlich den Roman „Die rote Postkutsche“ von Gyula Krüdy, durch seine kongeniale Übertragung dem österreichischen Volk und damit auch dem gesamten deutschen Sprachraum erschlossen zu haben. Gyula Krüdy (1879 bis 1933) war der Sohn eines dem Landadel entstammenden Rechtsanwaltes und eines Dienstmädchens, deren Vater, ein Fleischhauer, dermaßen von Pech verfolgt wurde, daß er nicht imstande war, einen eigenen Laden zu eröffnen. Schon in jungen Jahren erwies sich Krüdy in Trinkgelagen, Duellen und romantischen Abenteuern als eine Persönlichkeit von so überschäumendem Temperament, daß er im Wogengang seiner Gefühle bald zum hemmungslosen Genießer, bald zum frivolen Spötter und bald zum Weltverächter wurde, um sich schließlich aus der Nacht seiner Schwermut erneut in das Getriebe des Budapester Nachtlebens zu stürzen. Trotz seiner zahlreichen Bekannten, die allen nur denkbaren sozialen Schichten angehörten, war und blieb Krüdy letzten Endes ein Einzelgänger, und als Einzelgänger ging er in die Literatur seines Volkes ein. Seine Diktion, das Visionäre, das die Handlung zeit- und raument-rückt gestaltet, läßt in der fünften Dimension Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges ineinanderfließen. So entsteht ein gespenstisches Spiegelkabinett, das verzerrte Teilbilder zu einer erschütternden Synopsis ungezügelter Triebe, Lüste und Sehnsüchte vereint und gerade dadurch in Abgründen des Hasses und der Ver-irrungen ein Ahnen erweckt. Und dieses Ahnen ist nichts anderes als das uneingestandene und darum auch unstillbare Verlangen nach Harmonie und Frieden, das haltlose Menschen, der letzten Hoffnung beraubt, zur Flucht aus dem Leben verleitet. Man kann dieses verhängnisvolle Verlangen sachlich und nüchtern auch als schlechtes Gewissen bezeichnen, das die von Leidenschaften Besessenen durch Eskapaden und Exzesse vergebens zu betäuben trachten. Daß Krüdys mit der Welt des Metaphysischen verknüpfte Darstellungsart das Geschehen in dichterische Aussagen einer höheren Wirklichkeit verwandelt, beweist die einzigartige Ausdruckskraft dieses Erzählers, dessen Schaffen — mag er sich als Seher und Geisterbeschwörer hin und wieder Gogol, aber auch einem Schriftsteller wie Josef Roth nähern, der ebenfalls über die letzten Jahre der Donaumonarchie berichtet — sich in keine der landläufigen literarischen Kategorien einordnen läßt.

Dies gilt vor allem für den Roman „Die rote Postkutsche“, in dem sich Lebensart und Weltanschauung des Autors widerspiegeln. Wir lernen die ungarische Hauptstadt in jener schicksalhaften Epoche kennen, als das 19. Jahrhundert zu Ende ging und zu Beginn unseres Jahrhunderts die fortschreitende Industrialisierung und der zunehmende Chauvinismus Erschütterungen im sozialen Gefüge und im kulturpolitischen Leben auslösten: Schatten, die dem ersten Weltkrieg vorauseilten. Arthur Schnitzler hat die Vergnügungssucht, der damals in Wien, der Kaiserstadt, so manche Adelige und Offiziere, aber auch wohlhabende Bürger verfallen waren, in nicht gerade erfreulichen, jedoch faszinierenden Szenen geschildert. Und diese Stimmung des „Amüsierensum-jeden-Preis“ beherrscht auch den Roman Krüdys, nur wirkt sich hier das Verlangen nach hemmungslosem „Sich-Ausleben“ noch dynamischer aus, es handelt sich ja um Menschen mit ungarischem Temperament. Die für manche Grenzsituationen charakteristische Verflechtung von hochwertigem Gedankengut mit Einfällen und Wünschen übelster Art macht die Fahrten „der roten Postkutsche“ zu abenteuerlichen und gefahrvollen Reisen, zu einer atemberaubenden Folge dramatischer Auseinandersetzungen zwischen den Engeln des Lichtes und den Mächten der Finsternis. Manches mag schockieren, und doch wird das dämonische Dunkel von einem zaghaften Lächeln erhellt, vom Lächeln eines Menschen, der trotz allem im Grund seiner Seele ein verträumtes Kind geblieben ist.

Eduard Alvinczi, einst k. u. k. Diplomat, nun ein mit sagenhaften Reichtümern gesegneter Patriarch, fährt In seiner „roten Postkutsche“ durch das ganze Land. In Wien gerät er mit Kaiser Franz Joseph in Konflikt, weil er eine Schuld Katharina Schratts beglichen hat. Der schrullige Dichter und Redakteur Rezeda folgt den Spuren Alvinczis. Ihm begegnen verarmte Gräfinnen, naive Schauspielerinnen und romantisch veranlagte Dirnen, und es ergeht ihm wie schon vor Jahren dem Besitzer „der roten Postkutsche“: immer wieder muß er sich auf den Weg machen, um das erträumte Idealbild einer Frau zu finden. Vergebens! Krank und bettelarm geworden, versucht er, so gelassen zu werden wie ein buddhistischer Mönch; er hofft, sich auf diese Weise von der Unrast der Welt befreien zu können. Der Ungarische PEN-Club verlieh 1931 dem dahinsiechenden Dichter einen Preis, um ihn von seinen ärgsten materiellen Sorgen zu befreien. Das Geld stammte von jenem Lord Rothmere, der einmal den krudyschen Traum hatte, König von Ungarn zu werden.

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