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Wie die russische Revolution austracli

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Ich bin nämlich zufällig dabei gewesen. Die russische Revolution ist bekanntlich in der Kaserne des wolhynischen Garderegiments ausgebrochen, und unser Haus lag dicht daneben an einer belebten Tramwaykreuzung. Vom zweiten Stock dieses Eckhauses sah man nun folgendes: vor allem einen Delikatessenladen, hinter dessen Schaufenster kleine Kerzen brannten, damit die Scheibe in der Kälte nicht vereisen sollte. Sie war aber doch vereist — außer einem kleinen Fledc in der Mitte, der gerade eine Schachtel mit Datteln freiließ. Und vor dieser Schachtel mit Datteln fror auf der Straße tagaus, tagein ein stupsnäsiger Zeitungsjunge, der an die Straßenbahnwagen, jedesmal mit dem Schrei: .Hier — die ganze Literatur!“, haranlief und dann mit einem heißen Blick auf die Datteln an seinen Standort zurückkehrte. Das alles konnte man vom zweiten Stock genau beobachten. Auf einmal aber stand bei dem gerade haltenden Straßenbahnwagen nicht bloß der Junge, sondern ein ganzer Haufen Menschen — Soldaten und Arbeiter. Sie stellten sich vor dem Wagen breitbeinig auf die Schienen und redeten mit roten Gesichtern auf den Führer ein: der wollte aber trotzdem weiterfahren. Da sprangen zwei Gestalten in den Wagen, hoben den Schalthebel aus und liefen mit ihm davon. Da mußte der Wagen stillstehen. So einfach geht das. Mit diesem stillgesetzten Wagen war sozusagen der Grundstein zur russischen Revolution gelegt. Alles Weitere schloß sich ihm (dank der gestauten Wut) nach dem Schneeballsystem an, und drei Tage darauf hatte bereits ganz Rußland bis an den Stillen Ozean den Umsturz telegraphisch anerkannt.

Vorläufig aber 6aß, wie gesagt, bloß der eine Straßenbahnwagen fest. Doch wimmelte jetzt alles von Menschen. Die Soldaten trugen das Gewehr mit dem Kolben nach oben umgehängt. Ein Ordonnanzsoldat marschierte durch die Mitte der Straße heran. Er hatte sichtlich von der ganzen Revolution noch keine Ahnung und hielt das Gewehr vorschriftsmäßig geschultert. Auf einmal hatte er den Wirbel gemerkt, blieb stehen — und hängte jetzt langsam sein Gewehr ebenfalls mit dem Kolben nach oben. Dann stapfte er mitten durch die Revolution an der Straßenkreuzung hindurch, und man klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Hundert Schritt weiter sah er sich um, zuckte die Schultern, brachte sein Gewehr wieder in die vorschriftsmäßige Lage und marschierte mit schwerem Tritt davon. — Nun begannen Immer wieder Autos aufzutauchen. Sie hatten flatternde rote Fahnen aufgesteckt und kamen mit Hurra daher. Auf jedem lagen zwei Mann langgestreckt über den Kotflügeln und hielten das Gewehr im Anschlag. Das sah wie eine architektonische Gruppe aus, und man nannte sie »die Karyatiden“.

Dann ging ich auf die Straße, wo nun schon eine hübsche Menge Tramway-wagen festsaß. Die Karyatiden sausten, heiser vom Hurraschreien, ununterbrochen durch. Alle Menschen unterhielten sich angeregt, es herrschte eine gewisse Un-gebundenheit. Plötzlich knatterte irgendwo vom Liteinyprospekt her ein Maschinengewehr die Straße entlang. Mit einem Ruck fiel alles wie vor einer mächtigen Gottheit platt auf den Buch; die ganze Menschenmenge hatte sich, schien es, auf dem Trottoir schlafen gelegt. Und die Kugeln sangen dicht über unsere Rücken hin. So ein Liegen wird allmählich langweilig, und ich schielte auf die Heringe neben mir. Dicht bei mir lag ein „Bossjak“ — ein Vagabund — mit blaugefrorenem Gesicht. Neben dem Bossjak lag ein dicker Bürger im Pelz, der hielt seinen Kopf mit der Karakulmütze ängst-l'ch auf das Trottoir gepreßt. Und nun sah ich etwas ungeheuer Natürliches: trotz der Kugeln, die wie eine Haarschneidemaschine die Luft über uns zerschnitten, heb der Bossjak plötzlich seine blaugefrorene Tatze, ließ sie 6chwer auf den Schädel des dicken Bürgers fallen und zog ihm seine warme Karakulmütze ab. Und schob sie eich, liegend, auf den eigenen Kopf. Der andere hielt still wie ein Murmeltier und preßte seine Nase platt auf die Trottoirfliesen. Das ging alles ohne ein Wort, im Nu, unter dem Geknatter! Dann hörte dieses auf, und alles stob rattenartig auseinander.

Nach einiger Zeit kam ich wieder zurück an meine Straßenecke. Die lag jetzt ziemlich leer, die Revolution hatte sich ausgebreitet. Sie, die Ecke, hatte ihre Pflicht getan. Da mußte aber unterdessen etwas passiert sein, denn jedenfalls sah ich folgendes: Die vereiste Scheibe vom Delikatessengeschäft war in einem riesigen Stern eingekracht, und davor saß in der Kälte „die ganze Literatur“ und aß aus einer Schachtel Datteln.

An diesem Abend hatte der Himmel ein unglaublich zartes Grün, und darin blitzte ein großer goldener Stern.

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