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Die Entlassung

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Leberecht stand in dem ersten Wagen, sie hatten den Platz ganz vorn gewonnen, von dort konnten sie auf das graue Band sehen, das ihnen entgegenrollte, konnten auch durch den trüben Glasschlitz den Fahrer und Beifahrer erspähen. Sie sahen dann das befremdliche Kraushaar dicht über dem schokoladebraunen Ohr; unbewegten Gesichts starrte der schwarze Soldat durch die Windschutzscheibe, seine rosa Nägel stachen seltsam hell ab von den Fingern, die an dem Lenkrad zitterten.

Nein, sagte Stabsarzt Schimmelbusch, eine Auskunft werden wir von denen gewiß nicht kriegenl

Die Leute erschraken allmählich über die Fahrt. Nicht bloß, daß ihnen die Geschwindigkeit zusetzte bei leerem Magen — sie hatten sich überhaupt diese Reise anders vorgestellt. Sie hatten erwartet, daß ihnen das Leben wiederkehren werde mit Städten, Orten und Menschen, statt dessen trug sie die Autobahn fort durch ein gespenstisch leeres Land. Und sogar für die eigene Schnelligkeit verloren sie zwischen den gleichförmigen Grsböschungen das Maß. Eine Zeitlang waren die drei Wagen in knappem Abstand gefahren, nun fielen der zweite und dritte Wagen zurück. Aber längst nicht mehr schauten die Eingepferchten danach aus. Mit schüttern-den Gesichtern duckten sie sich hinter der Bordwand, nur ab und zu hob einer den Kopf über die Planke.

Ein Schild! — Triptis! las Flakhelfer Gründl. Der Oberleutnant verbesserte: So kann eine Ortschaft nicht heißen, mußt dich verlesen haben!

Schleiz, Greiz — bei diesen kurzen Wörtern glaubte Gründl nicht zu irren. Ziegenrück!, entzifferte nun der Oberleutnant selber.

Marxgrün! — Die Leute lachten, auch die Ortsnamen schien hier ein Koboldwesen erfunden zu haben, damit sie paßten zu dem spukhaften Land. Nun traten gar die Wälder dichter herzu, die Weidehügel wuchsen zu Waldkuppen auf.

Das muß doch schon Bayern sein, das Fichtelgebirge, sagte Stabsarzt Schimmelbusch.

Plötzlich hielt der Wagen. Die Leute streckten sich.

Was ist los? — Nichts, er wartet auf die andern!

Schon kamen auch der zweite und dritte Wagen heran. Aber nun geschah etwas, auf das die Leute nicht gefaßt waren. Der Beifahrer aus dem ersten Wagen streckte das schwarze Gesicht aus dem Schlag und rief eine kurze Silbe zurück, und dann bogen die drei Wagen, dicht aufgeschlossen wieder, von der Autobahn ab. Und in ein winziges Sträßlein schwenkten sie ein, von dessen beiden Seiten die Äste an den Wagen streiften, und fuhren auf ihm fort.

Die Leute ruckten argwöhnisch auf. Das kam daher: niemals hatten sie fest darauf gebaut, daß sie auch wirklich entlassen würden nach dieser Fahrt, Nun schöpften sie Verdacht. Wohin konnte dieses Sträßlein anders führen als zu einem Lager, in das sie abseits wieder eingesperrt werden sollten? Oder hatten sich die Fahrer bloß verirrt? Oder hatten sie vor, einen auszuplündern?

Törry trommelte gegen die Scheibe des Fahrerhäuschens. Die Kraushaarigen rührten sich nicht. Sie fuhren ganz langsam und dann blieben sie stehen.

Stabsarzt Schimmelbusch packte seine Tasche. Er stieß Leberecht an. Sie kletterten über die Planke und sprangen zu Boden. Ihnen folgten die anderen. Doch standen auch die beiden Schwarzen schon neben dem Schlag. Der Fahrer fuchtelte mit den Händen, der Beifahrer rollte drohend die Augen — man konnte sich nicht verständigen.

Stay here! riefen die Schwarzen und zeigten vor ihren Füßen zu Boden, als ob sie den bestimmten kleinen Fleck meinten — w'll go back!

Schimmelbusch sagte zu Leberecht: Frag du sie einmal!

Leberecht überlegte, dann fragte er: Back to Naumburg?

In dem Augenblick umringten ihn auch die Fahrer der andern Wagen, sie nickten lebhaft. Es schien ihnen daran zu liegen, daß die Leute beieinander bleiben und auf sie hören sollten. Da wichen aber die Leute erst recht aus, das hielten sie für möglich: zurück nach Naumburg —-vielleicht hatte man sie bloß spazieren gefahren? Aber endlich kam es mit Mühe heraus: bloß die Wagen sollten zurück, die Fahrer durften die Autos nur bis zur Grenze bringen! — Zur Grenze des Armeebereichs, sagte Leberecht, und Lagererinnerungen stiegen ihm auf — das war hier zugleich die bayrische Grenze!

Aber woher wissen diese Schwarzen, daß hier Bayern ist? fragte Schimmelbusch. Leberecht sagte: Bitte sehr! und brachte es auch heraus: die Fahrer tippten ihm erklärend auf die Zähluhr im Wagen, ernsthaft blickten sie auf die erleuchteten Ziffern, und einer von ihnen sagte:

We go eighty miles from Naumburg, and than — we go back; you — und er setzte Leberecht den schwarzen Finger an die Brust — g o o n I

Da verstanden es die Leute: sie konnten nach Hause gehen.

Es kam. - ihnen sonderbar vor. An einem Ort, den nichts kennzeichnete, gab eine Zähluhr sie frei; und nun stiegen auch die Schwarzen schon wieder in die Wagen. Der Benzingeruch verwehte, die

Leute blieben. Ihnen war zumute, als ob sie träumten. Sie sahen das Ackersträß-lein und links und rechts die Wiesenhänge und dahinter ein Stück des Waldgebirges über den schwankenden Gräsern; sie sprachen den Namen dem Stabsarzt nach: das Fichtelgebirge, ja, das ist Bayern!

Aber an dem Ort standen sie doch verlegen. Es kam alles so plötzlich. Auf einmal wurde man abgesetzt und mußte selbst für sich sorgen. Der Oberleutnant schlug vor: Autobahn, einen Wagen anhalten, der einen mitnimmt bis zur nächsten Stadt!

Törry fragte: Wie heißt die nächste Stadt?

Das wußte der Oberleutnant auch nicht. Schimmelbusch zog seine Karte hervor. Nohel blickte ihm über die Schulter und sagte: Auf jeden Fall fort von der Grenze, nicht zu nahe bleiben bei Thüringen!

Auf jeden Fall zuerst essen, sagte Gründl aus Straubing, er berichtete: Ich habe das Dorf schon ausgespäht, hier hinten, und es heißt auch so, daß ich gleich an essen denke: Gefräß heißt es!

Einige lachten über den Namen. Das paßt ja, gibt es das?

Gründl sagte: Gefräß — es steht auf dem Schild!

Aber mit zwei e! rief Stabsarzt Schimmelbusch, er hatte indessen den Namen auf der Landkarte gefunden, er zeigte mit dem Finger darauf: Gefrees, hier ist es gedruckt!

Gründl beugte sich über die Karte. Ja so, das stimmt...

Ein anderer Mann, der aus Bamberg stammte, wollte aber von essen nichts wissen, er sprach für sich selber: Wenn ich Glück habe, ich könnte heute noch heimkommen!

So redeten die Leute bald jeder von etwas anderem, und dabei kam zutage, daß sie kaum nooh zueinander gehörten. Jeder hatte sein eigenes Ziel und den getrennten Weg.

Du aus Bamberg, sagte also Schimmel-busch, gehst hier fort! Kommst zu der Stichbahn, an der entlang gehst du weiter!

Und du bist aus Nürnberg, du hältst dich an die Autobahn!

Schimmelbusch saß am Straßenrand, er gab seine Weisungen, als ob er Trupps aussende; die letzten Weisungen, sie galten dem Weg nach Hause.

Die Richtung nach Regensburg verknüpfte Leberecht mit Schimmelbusch und dem kleinen Flakhelfer Gründl; der stand ein wenig verzagt: Nehmt ihr mich wirklich mit?

Das wäre noch schöner, wenn wir dich allein laufen ließen!

Stabsarzt Schimmelbusch saß noch immer am Straßenrand. Wie ein Kapitän, der als letzter geht, erhob er sich erst, als niemand mehr von ihm Rat forderte.

Und da nun waren wirklich die meisten der Leute verschwunden, der Ort lag wieder einsam. Ein paar OT-Männer nur, Weltkriegssoldaten von 1914, und nun zum andern Mal Heimkehrende, hockten abseits unter dem Baumschatten, säe hielten zwischen mageren Kiefern die Stummelpfeifen fest und wickelten sich die Fußlappen nach alter Art.

Also Gefrees, sagte der Stabsarzt zu Gründl, nun wollen wir einmal sehen, ob uns der Name das auch hält!

Zu dritt schritten sie über das Wiesenhaupt, gingen neben dem Bahnkörper. Wo er abbrach, stand ein Schuppen hinter der Bohlenfläche einer Brückenwaage. Von dem schmalen Fenster leuchteten Blumen, ein Brunnenschwengel hing wie eine Pfeife in einem Rohrmaul.

Sie blieben stehen, als scheuten sie sich plötzlich, auf Menschen zu stoßen, die eingehaust lebten. ii-Neugierde hatte die Leute längst erspäht. Kommt nur herein! rief eine Stimme vom Fenster. Hinter den Blumentöpfen tauchte eine Frau empor, winzige Augen lugten unter grauem, lose hängendem Haar in dem breiten Gesicht. Innen riefen Stimmen durcheinander, dann öffnete sich die Tür des Schuppens. Die breitgesichtige Frau erschien, sie ging barfuß und schwätzte hinter den Ankömmlingen her: Wo seid ihr her? Wir haben die Autos gesehen. Aber was wollten die hier?

In glühender Ermattung setzten sich Leberecht, Schimmelbusch und Gründl auf eine Bank in der kleinen Stube. Daß sie reden sollten, erzürnte sie beinahe. Nun gut, Lager Naumburg und das Ende der Fahrt — die Wörter bröckelten ihnen hervor. Indessen gewahrten sie Leben: in einem Wäschekorb saugte ein kleines Kind an dem Fläschchen. Ein Schulmädchen äugte vom Herd, es schnitt Späne; ein anderes Mädchen, um ein paar Jahre darüber, stand bei Tische und schwang das Bügeleisen.

Die Alte strich sidi die grauen Haare von der Schläfe. Dabei zitterte ihre dicke fleischige Hand. Nur die Augen, die winzigen tiefgebetteten, blickten fest und ruhig. Sie sagte: Seht einmal her, Brot haben wir keins, das gibt es erst übermorgen wieder. Aber hier — und mit den Worten lüftete sie ein Zeitungsblatt vom Fußboden und enthüllte zwei riesige Backbleche, auf denen gelbporig, hell-gekrustet, und in Länge und Breite eines kleinen Tisches, der Streuselkuchen lag.

Greift zu!

Leberedit, Schimmelbuch und Gründl bückten sich zu Boden, sie brachen Stücke ab, hoben sie auf und schlangen.

Die Frau sagte: Das haben wir, weil die Tochter beim Amerikaner arbeitet, sie kriegt das alles, wird bezahlt so — mit Sachen!

Die Esser nahmen sich nicht Zeit, zu antworten. Gleichwohl unterschieden sie, daß die Alte in einem fremden Tonfall, nahe der Schriftsprache, redete, nun fiel ihnen auch ein, daß jemand nicht seit jeher in einem Schuppen wohnte — und was hatten sie eben gehört: die Tochter? Flugs standen sie auf, um sich bei der Büglerin zu bedanken.

Nein, das ist nicht die richtige, wir sind keine Familie, erklärte die Alte. Fältchen zuckten ihr um den kleinen, vormals schönen Mund, indessen die grauen Augen, winzige Vertrauen erweckende Hindenburg-Augen, unbewegt blickten, nur der Kopf über der Leibesfülle leicht wackelte. Wir sind hier so — zusammengesdirapst, Nachbarn von daheim, noch nicht lange an dem Ort!

Wir dachten es schon — die Sprachel sagte Leberecht, nachdem er ein letztes großes Stück abgebrochen und sich an ihm gestillt hatte.

Ja, die Sprache, man fällt auf mit ihr! sagte die Mte, fremdartig zwitschernd flogen ihr die Worte von dem kleinen Mund.

Aber woher denn? fragte Leberecht. — Adi, aus Schlesien! — Aber nun hier, nach Gefrees?

Ja, wie es so kommt, antwortete die Frau und erzählte, es sei eben nicht mehr weitergegangen in Gefrees mit dem Treck; Kriegsende, die Amerikaner, da seien sie geblieben. Und es habe die Tochter ja auch das Kinddien bekommen, also hätte die Gemeinde sie nicht hinauswerfen können aus dem Schuppen, Wie ßie's wohl gern getan hätte.

Und das hier ist also Ihre andere Tochter? fragte Leberecht und zeigte auf die Büglerini

Die Frau wackelte ein wenig stärker, wie Verwunderung und Verneinung immerzu sah es aus. Nein, ich habe es Ihnen schon gesagt — zusammengesdirapst, vom Nachbarhaus. Von dieser ist sonst niemand mitgekommenI

Dann rief sie das Mädchen, das vom Herd äugte. Und auch von der Kleinen niemand, aber nun bin ich ihre Mutterl

Ihr breites, altes Gesicht verschönte sieb, und in ihren Augen, so klein und grau sie auch blickten, flammte plötzlich unverwüstliche Lebenskraft. Die roten Blumen vom Fenster gaben dem Gesicht einen sanften Widerschein. Die Frau kehrte sich ab und wischte sich über die Lider. Da krähte auf einmal das Kind in dem Körbchen.

Schimmelbuscb beugte sich vor und schnupfte, Gründl blickte stützigdumm, Leberecht sagte: Oh, wir haben Ihnen alles weggegessen!

Ach Gott, sagte die Frau verwirrt, nun haben wir wirklidi nidits mehrl Aber die Tochter, sie muß ja morgen wiederkommen. Aber Sie, wohin wollen Sie weiter?

Heute nicht mehr, sagte Schimm el-busdi.

Er sah auf Leberedit, der nahm sieb ein Herz und fragte: Können wir übernachten bei Ihnen?

Ja, wo denn, In der Holzlage höchstens, sagte die Frau.

Prächtig, in der Holzlage, rief Scnimmel-busch und stand auf.

Aber — jetzt gleich? fragte die Frau.

Auf der Stelle! sagte Sdiimmelbusdi. Gegen Leberedit zog er die Brauen hoch: Auf, auf, morgen müssen wir frisch sein!

Leberedit sträubte sich. Er trat ans Fenster, ihm schuf das Gute, las geschehen war, Aufregung. Er sagte: Wollt ihr euch nicht wenigstens noch waschen?

Ha, gut, waschen! So viel gaben Sdiimmelbusdi und Gründl zu. Sie traten durch die Tür an den Brunnen und zogen die Hemden aus. Leberecht wusch sich zuletzt. Er nahm das Handtuch, mit dem die Frau fürsorglich herbeiwackelte, trocknete sich ab. Ungeduldig sah ihm Schim-melbusch zu: So, jetzt ist's genug!

Ich bin erst frisch jetzt, entgegnete Leberecht, als er in sein grünes Hemd schlüpfte — wollen wir nicht noch ein Stück gehen, uns umsehen?

Er zeigte auf Wiesenhang und blumige Hügelkuppe, auf den blauen Waldesschatten, in dem das Dunkel des Abends nistete.

Nein, gehen kannst du morgen noch genug! rief Schimmelbusch. Seinem nüchternen Sinn widerstrebte die Zumutung, einen überflüssigen Schritt zu tun. Und weil eben auch die Frau mit dem Schlüssel zur Holzlage kam, gab Leberecht nach.

Gut, schlafen also, sagte er und folgte den andern zur Holzlage.

Dort freilich geschah es dann, daß er, während Schimmelbusch und Gründl alsbald tief Atem zogen, allein wenigstens noch wachte. Ihm schlug das Herz, es kam ihm seltsam vor, wie sie hier lagen bei dem fremden alten Weib, das selber keine Heimat mehr besaß und sie doch aufnahm in die unerschöpfte Sorge als liebe Nächste. Und das war die erste Nacht in der Freiheit: hinter dem Gitter der Holzlage zog die Dämmerung auf, Mäuse pfiffen zwischen den Brettern, von dem Wohnschu.ppen herüber plärrte das Kind, die Stimme der Alten fiel mit derben Scheltworten fremdartig hochzwitschernd ein, und doch war alles friedlicher, wunderbar heimischer Laut. Aus dem Roman „Heimfahrt“ mit Bewilligung des Pilgram-Verlages, Salzburg.

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