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Der Kritiker Friedrich Sieburg

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VERLOREN IST KEIN WORT. Disputationen mit fortgeschrittenen Lesern. Von Friedrich Sieburg. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1966, 387 Seiten, Preis DM 24.80.

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VERLOREN IST KEIN WORT. Disputationen mit fortgeschrittenen Lesern. Von Friedrich Sieburg. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1966, 387 Seiten, Preis DM 24.80.

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Welch einen Kritiker von hohem Rang Deutschland mit Friedrich Sieburg verloren hat, zeigt wieder deutlich diese Sammlung seiner Buchkritiken, aus den Jahren 1955 bis 1964, die eine Fortsetzung des seinerzeit erschienenen Bandes „Nur für Leser“ bildet. Der Titel ist einem Eichendorff-Zitat entnommen, die Bezeichnung „Disputation“ im Untertitel hat hier keine Berechtigung. Leider gibt kein Vorwort darüber Auskunft, ob noch der Autor selbst das Buch zusammengestellt hat, oder ob ein Herausgeber am Werke war.

Die Rezensionen sind nach Jahren geordnet, und jeder Gruppe ist ein mehr allgemein gehaltener kulturkritischer Essay vorangestedlt. Bei Sieburg geht ja die Buchkritdk immer über das eigentliche Literarische hinaus, das jeweilige Werk ist für ihn ein Spiegel der geistigen und gesellschaftlichen Zustände, der Symptome gleichsam, die eine Diagnose ermöglichen. Er wertet die Literatur stets im Zusammenhang des Lebensganzen, des Gesellschaftlichen, nicht als eine abgesonderte Erscheinung, und der Begriff der „Gesittung“ spielt in seinem Denken eine wichtige Rolle, wie aus dem Aufsatz über Thomas Mann hervorigeht.

Es sind Bücher sehr verschiedener Art, die hier kritisch beleuchtet werden, nicht nur schöne Literatur, sondern auch Biographien, Memoiren, Essays und politische Schriften, die während eines Jahrzehnts erschienen sind. Viele berühmte Namen tauchen auf, wie Bergen- gruen, Cocteau, Frisch, Jaspers, Jünger, Heinrich und Thomas Mann, Maurcäs, Pasternak und Thiess. Daneben auch Autoren zweiten und dritten Ranges. Für Sieburg steht stets das menschliche Problem des Werkes im Vordergrund, doch behält er auch die formalen Qualitäten im Blick. Manches, was an sich nicht sehr bedeutend ist, wird Anlaß zu bedeutenden Ausführungen. In solchen Fällen überragt die Kritik an Wert ihren Gegenstand. Für Sieburg war Kritik eine „literarisch geübte Form des Moralismus“, was mit Moralisieren allerdings nichts zu tun hat. Man anerkennt sein ernstes . und verantwortungsvolles Bemühen auch dort, wo man seinen Ansichten nicht immer ganz zustimmen kann. Sein glänzender Stil erweist sich in vielen treffenden und geistvollen Formulierungen, welche die Lektüre des Buches genußreich machen. Als ein — keineswegs bequemer — Autor mit der heute so seltenen Tugend der Zivilcourage hält Sieburg mit seinem Tadel an Übelständen im politischen und kulturellen Leben der Bundesrepublik Deutschland nicht zurück, mit harten Worten, aber auch witzig-dronisch weist er auf die wunden Punkte hin. Wir brauchen dabei nicht mitleidig zu lächeln, denn manches gilt auch für die Verhältnisse in Österreich. Sehr oft nimmt er die Auswüchse und Schattenseiten des „Literaturbetriebes“ aufs Korn; dazu bieten die rezensierten Bücher reichlich Gelegenheit: die Umtriebe der literarischen Manager, die Nichtigkeiten zu Sensationen hinaufloben, die falsche Art der sogenannten „Nachwuchsförderung“, die schablonenhafte Nachahmung gewisser Autoren und den erschreckenden Konformismus einer bestimmten Art von Literaturkritikern, welche ohne eigenes Urteil den Bluffern erliegen und die modischen Schlagworte nachbeten. Mit Recht tadelt Sieburg „die ständige Furcht aller Beteiligten, nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein, die so manchen Graukopf bis zur Atemlosigkeit mit der lieben Jugend dahintollen läßt “ Einmal heißt es: „Die deutsche Literaturkritik ist zu einem Sprechchor geworden.“

Die Herausgabe dieses letzten Buches von Sieburg ist weit mehr als ein Akt der Pietät; sie rechtfertigt sich voll durch das literarische Niveau des Gebotenen.

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