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Franzosische Klarheit

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Man rühmt den Franzosen eine besondere Gabe nach, klar und vernünftig zu denken und dabei auch in schwierigen und komplizierten Fragen den menschlichen Kern zu erkennen. Der Sinn für die menschlichen Wirklichkeiten war es, der nach dem ersten Weltkrieg den großen französischen Staatsmann Briand auszeichnete. Klarheit des Denkens ist auch ein wesentlicher Charakterzug Herriots, der vor kurzem im Organ der Französisch-Österreichischen Gesellschaft in Paris einen Artikel veröffentlicht hat, dessen Titel schon ein Programm enthält: „Man muß Österreich Lebensmöglichkeiten bieten.“

Was nun in dem Artikel Herriots besonders zeitgemäß anmutet, ist die Stellungnahme des Demokraten Herriot zum Regime Dollfuß-Schuschnigg.

„Sie. wissen“, so lesen wir unter anderem, „daß ich ein geistig völlig unabhängiger Mensch bin. Ich bewahre dem wahren Österreich meine ganze Freundsdiaft. Österreich liegt mir seit langem am Herzen und hat meine Zur neigung auch immer erwidert. “Was für herrliche Tage habe ich in Wien erlebt! Ich war mit Kanzler D o 11 f u ß, diesem reizenden Menschen, sehr befreundet und vor ihm mit Seip-el. Ich war,/einer der letzter), die den armen Schuschnigg in Freiheit gesehen haben. Das waren alles österreichische Patrioten, aber sie haben schwere Fehler gegangen.. Ich kann natürlich bezeugen, daß sie gegen Hitler waren. Sie haben aber anderseits nur auf Mussolini geschworen 'und wir — wir haben sie fallen lasseh. Wir sind daher auch mitverantwortlich.

Aber Österreich liebt Frankreich. Man hat ihm Ideen aufgepfropft, deren Erfolg zu einem großen Teil darin zu suchen war, daß man Österreich nichgeholfen hat. Das darf nicht wieder beginnen.' Man muß Österreich Lebensmöglichkeiten bieten, ohne sich mit mehr oder minder nebelhaften Kombinationen aufzuhalten. Österreich muß sowohl wirtschaftlich als auch politisch stark sein. Es muß in Wahrheit lebensfähig sein. Das ist unsere Aufgabe *— das ist die Aufgabe aller seiner Nachbarn.“ .

Man kann nur wünschen, daß diese real-politischen und doch menschlich überaus warme Bejahung Österreichs im Auslande sowohl als auch im Lande,bei uns selbst Gemeingut weiter Kreise wird. Daß Dollfuß und Schuschnigg schwere Fehler begangen haben, diese Feststellung hat im Munde eines Staatsmannes wie Herriot, der sich selbst nicht scheut, die eigenen Fehler zu bekennen, keine herabsetzende, sondern eher eine klärende Bedeutung. Wesentlich aber dürfte sein, daß der ehemalige französische Ministerpräsident in Dollfuß und Schuschnigg österreichische Patrioten sieht, die einen schweren Kampf für ihr Vaterland gefochten haben — gegen einen riesigen und unbarmherzigen Gegner, dem gegenüber sie einsam und von den anderen verlassen waren. Die Epoche 1934 bis 1938 mag durch politische Fehler gekennzeichnet sein, zu schämen brauchen sich die Österreicher ihrer nicht, auch nicht vom Standpunkt der Demokratie aus.

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