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Geschichten vom Gewissen
Es gibt Augenblicke im Leben und in der Geschichte, in denen sich die Abläufe konzentrieren. In einer Sekunde kann die Entscheidung des Jahrhunderts fallen. In einem Moment wird die Weiche des Schicksals gestellt. Von einem solchen Kulminationspunkt aus betrachtet, scheint alles Vorhergehende nur Vorbereitung, alles Nachkommende nur folgerichtige Erfüllung. Das Gewissen des Menschen, im alltäglichen Gebrauch durch vielerlei Einflüsse eingeengt und abgestumpft, scheint einzig für diesen Augenblick in seiner vollen Verantwortlichkeit geschaffen. Der freie Wille hat für diesen Augenblick Gewicht. . Mit dem Pathos der „Welt von gestern“ spürte seinerzeit Stefan Zweig solchen „Sternsbuinden der Menschheit“ nach. Mit dem Understatement der Gegenwart versucht Rudolf Hagelstange in seinem neuen Buch „Alleingang“ Ähnliches. Er wählt jedoch nicht historische Gestalten, sondern erfundene, die so exemplarisch sind, als wären sie nicht erfunden.
Formal besteht das Werk aus drei Kontrapunkten. Dam Lebenslauf eines jüdischen Debilen steht der des jungen SS-Manns gegenüber, der Erzählung des Widerstandskämpfers, dessen Opfer nicht angenommen wurde, steht der spontane Opfertod eines Befehlsverweigerers gegenüber, dem Brief einer tragisch Hei'matverwuTzelten steht das Zeugnis eines Rückwanderers gegenüber, der in der alten Heimat keine Wurzel mehr findet. Vieles an den Figuren ist Klischee, ist DutzendgestaiLt, die man in den deutschen Literaturmühlen für unbewältigte Vergangenheit immer wieder findet, ist nicht frei von Sentimentalität. Eben darin hegt das Exemplarische. Manches, besonders in dem letzten Brief „Die Rechnung“, ist kluge Betrachtung politischer Aktualität, engagierte Repräsentation des Autors, mutig und subjektiv, angesichts jüngster Entwicklungen nicht ohne Torschlußpanik, eine späte Einslicht, die dem Autor über seinen Helden sogar noch Distanz erlaubt.
Rudolf Hagelßtainges reifer Erzähl-stal steht auf der einsamen Höhe hedler deutscher Prosa. Das Ethos dieser realistischen Parabeln kündet noch einmal den Wert der persönlichen Entscheidung und grenzt die kollektiven Mächte vom Gewissen des einzelnen klar ab. Eine Antwort auf die Gewissensfragen der sozialen Integration vermag ein so bewußter „Alleingang“ nur am Rande zu geben.
ALLEINGANG. Sechs Schicksale. Von Rudolf Hagelstange. Im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg. 189 Seiten, Ln., DM 18.—.
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