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Moses der Nationalheld

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Als „wichtigen Vorläufer des epischen Dramentyps, den wir mit dem Namen Brecht verbinden“, haben ungarische Fachleute ihren großen Dichter Imre Madäch (1823 bis 1864) entdeckt. Denselben Madäch, der sich mit seinem Hauptwerk, der „Tragödie des Menschen“, in seiner Heimat nur schwer und mit nachdrücklicher Hilfe des Dichters Janos Arany durchsetzen konnte und in Deutschland (soweit überhaupt bekannt) heute noch zu Unrecht als Goethe-Epigone gesehen wird. Das Drama „Moses“, das Madäch später für einen Wettbeweb der Ungarischen Akademie der Wissenschaften schrieb, wurde selbst in Ungarn nur zweimal inszeniert und teils ablehnend, teils in stiller Ehrfurcht aufgenommen.

Nun wagte sich das ambitionierte Theater der westungarischen Industriestadt Veszpre'm an diesen hoffnungslosen Fall und erbat eine Bearbeitung von Dezsö Keresztury, der als Dichter und Ubersetzer ebenso großes Ansehen genießt wie als Literatur- und Theaterforscher. Er sah das Stück mit heutigen Augen, die nicht mehr durch Abweichungen von den klassischen Dramenregeln irritiert wurden, wie seinerzeit die Jury der Akademie, sondern typische Elemente des epischen Theaters entdeckten: „Wir sehen es heute als modernes Schicksalsdrama auf einem gewaltigen Niveau. Es ist die Sage einer Ausnahmegestalt, eines Mannes, der seine Berufung entdeckt seinen Mythos schafft und die Werkzeuge zu seiner Durchsetzung, der seine Krisis durchmacht, Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellen, durchsteht, der besiegt wird und schließlich glorifiziert. Sein Beispiel, sein Rat und schließlich seine Kraft lassen das Volk aus freien Stücken tun, was für sein Schicksal notwendig ist.“

Hatten die von nationalen Leidenschaften erfüllten Zeitgenossen vor hundert Jahren im Schicksal des jüdischen Volkes Parallelen zum ungarischen Schicksal gesehen und Madächs Stück als nationalen Appell empfunden, so bescheinigt man dem Dichter heute eine weitere Konzeption: „Madäch sah in Moses den Archetyp aller Nationalhelden, und in der Geschichte des Judentums die Geschichte aller kleinen Völker.“

Kereszturys Bearbeitung polierte und modernisierte zunächst die etwas schwerfällige Sprache. Hatte Arany seinerzeit die „Tragödie des Menschen“ aufgeputzt, so bediente sich der mit Arany besonders vertraute Literaturfachmann der Sprache desselben Dichters, um auch das zweite Werk Madächs für die Bühne besser sprechlbar, für das heutige Publikum verständlicher zu machen. Er führte behutsame Kürzungen durch und ersetzte die recht äußerliche Einteilung in fünf Akte durch eine logische Zweiteilung: Im ersten Teil erkennt Moses, der Günstling des Pharao, seine Sendung, nimmt seine Aufgabe an und bereitet den Auszug seines Volkes aus Ägypten vor. Im zweiten Teil — beinahe 100 Jahre später! — schmiedet Moses das zerspaltene Volk zu einer Nation zusammen und führt es an die Grenze des gelobten Landes — unter Aufopferung seines Glücks und seines Lebens.

Eine einzige Rolle von enormer Spannweite und Vielfalt trägt das Drama. Der Prophet betritt die Bühne als Jüngling, verläßt sie mit 120 Jahren. Dazwischen liegt ein Leben des Kampfes mit sich selbst, seinen Widersachern, seinem Gott, seinem Volk, seinem Schicksal. Die Nebenrollen sind zwar Typen, aber doch individuell zu gestalten. Der Erfolg der Inszenierung in Vesz-prem war überraschend groß. Das Publikum, das durch die Industrie mehr als durch die Universität geprägt ist, reagierte gut und richtig. Obwohl die Ausstattung — schon im Hinblick auf die Abstecher in zehn Orte — karg war und das Hauptgewicht auf dem gewiß nicht leichten Text lag.

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