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Moses in Budapest

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Kann man nach Schönberg noch eine Moses-Oper schreiben? Die Frage stellt sich in Ungarn kaum. „Moses und Aron“ wurde hier nie auf geführt, außerdem gibt es eine eigene Tradition des Stoffes - im Schauspiel. Als nach 1848 und der Zeit des Absolutismus der Weg zum Ausgleich mit Österreich, also zu einer weitgehenden Autonomie der ungarischen Reichshälfte erkennbar wurde, schrieb der große Dichter Imre Madach ein „Moses“-Drama, das aber kaum zum Bühnenleben fand.

Bis vor rund einem Dutzend Jahren eine Neubearbeitung von Dezsö Keresz- tury entstand, die nun schon bei der 355. Aufführung im National the ater hält. Madach dachte an das Schicksal seines Volkes, das sich unter einem maßvollen, aber entschlossenen Politiker (Ferenc Deäk) aus der Umklammerung der Großmächte befreit, aber es wurde ein Gleichnis für das Schicksal kleiner Völker überhaupt.

Zum neuen Werk des Nationalthea- lers hat der heute 43jährige Komponist Zsolt Durko die Bühnenmusik geschrieben. Der Stoff reizte ihn, er konnte sich aber nicht entschließen, seiner Oper den Madach-Text zugrunde zu legen. Er schrieb das Libretto selbst. Das Schicksal des Volkes Israel in der Wüste, nach der Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft, hat heute Parallelen bei manchen jungen Völkern, deren Kampf, oft auch Tragödie erst beginnt, wenn sie sich aus der Kolonialherrschaft befreit haben. Doch auch diesen Zeitbezug wollte Durko nicht aufnehmen. Er strebte noch allgemeinere Gültigkeit an, wenn er sich auf die Auseinandersetzung zwischen dem genialen Führer und einem Volk konzentrierte, das nicht die Reife besitzt, ihm durch alle Opfer und Entbehrungen zu folgen.

Moses ist, wenn er von seiner Herkunft erfährt und seine Aufgabe erkennt, ein hoher Würdenträger am Pharaonen-Hof, erfahren im Gebrauch der Macht. Er hat höhere Bildung, höhere Einsichten, auch wenn er sie von einem Gott bezieht, der sich als innere Stimme artikuliert. Auf dem langen Weg durch die Wüste verstummt die innere Stimme. Moses nimmt Zuflucht zu Gewalt und Mord. Das Volk lehnt sich auf gegen ihn, das Erlebnis der Befreiung verblaßt, es gibt so etwas wie Sehnsucht nach der Geborgenheit der Sklaverei. Moses kann nur noch die Hoffnung auf das Gelobte Land in die Herzen der Jüngeren pflanzen. Sie gehen den Weg der Hoffnung weiter. Moses bleibt in der Wüste zurück. Er weiß nicht, ob sie das Land erreichen werden.

Es ist schwer, Gott aus der Bibel herauszubekommen. Bei Durko benutzt der Politiker mit der inneren Stimme brennenden Dornbusch, Gesetzestafeln und Strafgewitter als Hokuspokus, um dem Volk etwas begreiflich zu machen, was es intellektuell noch nicht erkennen kann. Moses hat aber auch selbst wenig Halt, wenn der Herr ihn nicht lenkt. Er wird nachdenklich, unsicher. Er reflektiert, statt unbeirrt zu handeln. Das Volk ist kein vollwertiger Ersatz für den Herrn in der dramatischen Auseinandersetzung. Es hat wechselnde Sprecher ohne markante Persönlichkeit: die Mutter des Moses, dann Bruder Aron, dann noch ein paar andere - sie verschwinden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Das Drama krankt am mangelnden Gleichgewicht. Die erstrebte Gemeingültigkeit gerät zur Unverbindlichkeit.

Und doch konnte die Budapester Staatsoper mit der Uraufführung einen Erfolg erzielen. Durko, Schüler von Ferenc Farkas und Goffredo Petrassi, schreibt eine zeitgemäße Musik, die neue internationale Entwicklungen wie auch das ungarische 20. Jahrhundert von Kodäly bis Ligeti zur Kenntnis nimmt und einen eigenen Weg findet. Er will nicht experimentieren, sondern gleichsam das Arsenal neuer Errungenschaften für sich auswerten. Durko hat Bühnen- und Filmmusik geschrieben, er hat mit Solo- und Chorwerken gelernt, die menschliche Stimme so einzusetzen, daß sie ebenso zur Geltung kommt wie der Text. In seiner ersten Oper beeindrucken nicht so sehr die wenigen dramatischen Höhepunkte, wie die lyrisch gestimmen Chöre, die besinnlichen rhapsodischen Arien, die Unisono-Klänge des farbig instrumentierten Orchesters.

Die Budapester Staatsoper, die wie immer zwei komplette Besetzungen bereitstellte, hat sich mit der musikalischen Vorbereitung große Mühe gegeben. Im starken Beifall hörte man am Schluß ein paar verhaltene Pfiffe.

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