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Von Christ und Christentum

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Ein Christ, der Christus nicht lebt, sinkt auch als bloßer Mensch zum Nichts herab; das unvorstellbare Geschenk, das uns ohne ein geringstes Verdienst zuteil geworden, zieht eine so furchtbare Verpflichtung nach sich, daß sein Verrat uns unter die Durchschnittsmenschen sinken läßt, uns zu Ungeheuern im ursprünglichsten Sinne des Wortes macht. Wären die Christen tiefer von dieser Wahrheit überzeugt, so könnten sie die Ungläubigen kaum mehr leichthin verachten und das Menschengeschlecht in Gute und Böse einteilen — sich selbst natürlich zu jenen zählen. Sie würden verstehen, daß ihnen eben dieses unerhörte Vorrecht verbietet, sich über solche als Richter aufzustellen, denen es durch ein zwar nur scheinbares, aber doch schmerzliches Unrecht nicht verliehen worden ist. Sie würden sich vor allem hüten, diese zurückgesetzten Brüder mit Maschinengewehren auszurotten, um damit Gott zu ehren und den Gekreuzigten zu trösten.

Nicht das ist das große Elend dieser Welt, daß es Gottlose gibt, sondern, daß wir so mittelmäßige Christen sind; immer mehr fürchte ich nämlich, daß wir die Welt zugrunde richten, daß wir Feuer vom Himmel herniederrufen. Welcher Wahnsinn, zu unserer Rechtfertigung damit zu prahlen, daß wir die vollkommene, lebenspendende, befreiende und rettende Wahrheit besitzen, wo sie doch untätig in unseren Händen liegtl Welche Torheit, hinter einer Verteidigungslinie aus Entsagungen und Verboten zu liegen, als ob wir nichts Besseres zu tun hätten, als das Gesetz zu bewahren, wo wir doch natürlicher- und übernatürlicherweise dazu berufen sind, es zu erfüllen!

Die Kirche sei die größte erhaltende Macht der Geschichte: dieses Bild von der Kirche Gottes hat man sich in der Welt schon von altersher gemacht. Wir aber wissen, daß dieses Bild falsch ist, wir wissen aber leider auch, daß sich viele Christen in diesem Bilde ausruhen: sie sind zu glauben geneigt, Christus sei einzig für die Sicherheit der Grundbesitzer gestorben, für das Ansehen hoher Beamter und die Dauerhaftigkeit der Regierungen.

Christen! Der gegenwärtige Zustand der Welt ist eine Schande für uns. Wir klagen, daß uns die Menschen fehlen; dabei fehlen aber wir den Menschen. Statt zur Rührung empfindsamer Seelen mit bebender Stimme zu verkünden, daß die Kräfte des Bösen überall den Sieg davontragen, daß das Heidentum wieder auferstehe, würden wir besser demütig eingestehen, daß unsere Verteidigungslinie nicht gehalten, daß wir die Front der Christenheit haben zusammenbrechen lassen.

Das Christentum ist nicht in erster Linie ein kompliziertes System von Verboten und Einschränkungen. Gute Gedanken sind das beste Mittel gegen schlechte, und die durch kunstvolle geistige Gymnastik so schwer zu erreichende Loslösung vom Ich gelingt demjenigen sofort, der sich den Mitmenschen gibt; der Geist der Armut wird denjenigen nie fehlen, welche die Armen lieben, sie um ihrer selbst willen lieben und nicht irgendeines geistlichen Profites wegen, den sie aus dem Almosen zu ziehen hoffen; denn schließlich fordert uns Gott dazu auf, s i e zu ehren und ihnen zu dienen, und nicht durch sie uns zu ehren und uns zu dienen.

Nach einem Aufsatz in der .Revue des Jeunes' aus dem Französischen übertragen von Dr. J. Keckeis.

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