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Zelte, Hirten, Wölfe

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Ich bin eingeladen, den Weihnachtsabend in der Dobrudschasteppe bei einem Mokanen, dem Herrn einer großen Schafherde, die in der südlichen Dobrudscha ihre Weideplätze hat, zu verbringen. Mein Gastgeber hat mir zu diesem Zweck seinen Wagen geschickt, und wir fahren am frühen Nachmittag bei gutem Wetter ab, denn der Weg ist weit, und wenn Schnee fallen sollte, o könnten wir uns leicht in der weglosen Steppe verirren und, was Gott verhüten möge, eine Mahlzeit für die Wölfe werden, die jetzt mit Einbruch der kalten Jahreszeit frech werden.

Anfangs geht es längs der Küste des Schwarzen Meeres dahin, das wie ein blauschwarzes Tuch zu unseren Füßen liegt. Aber dann heißt es in die weglose Steppe hinein, in der sich nur der Eingeborene, wie mein Kutscher, ein Nogai- Tatare von echtem Schrot und Korn, ohne technische Hilfsmittel zurechtfindet.

Etwa eine halbe Stunde nach der Ausfahrt aus Constantza beginnt sich der Wind zu drehen, der Himmel überzieht sich mit bleigrauen, tief über der Steppe hängenden Wolken, und schon hat es auch in großen Flocken zu schneien angefangen. Nach weiteren zehn Minuten verdichtet sich der Schneefall, und wir müssen durch eine vor uns tanzende Schneewand, die immer nur einen Augenblick vor uns zurückweicht, hindurchfahren.

Nur noch instinktiv laufen unsere kleinen Pferde, denen der Wagen immer schwerer wird. Die Meeresküste ist längst unseren Blicken entschwunden. Die Pferde,. vom Kutscher zu immer größerer Eile angetrieben, fangen an zu schnauben und zu wittern, und wenn sie einen Augenblick Stillehalten, hören wir dann und wann, allerdings noch sehr schwer vernehmbar, einen langen, schrecklichen Klagelaut: das Hungergeheul eines Wolfes!

Der Kutscher beginnt zu stutzen. Dann wendet er plötzlich den Schlitten in die entgegengesetzte Richtung, aus der der Wolfslaut kam, um, wie er sagt, die gefährliche Stelle in einem Bogen zu umfahren. Die Pferde, so klein sie sind, greifen aus, und wie auf Blitzrädern geht es in die Schneedämmerung hinein. Die Schneewolken wirbeln, tanzend steht vor uns die Schneewand, hinter uns läßt sich der Wolfslaut, der ein schauerliches Echo Weckt, immer näher vernehmen. Die Pferde ziehen jetzt mit aller Kraft: Ein rauchender Dunst, den der Schnee niederschlägt, entsteigt ihren Leibern, während wir alle Anstrengungen machen müssen, um nicht aus dem Wagen zu fallen, der in allen seinen Fugen knirscht und knackt. „Wir jagen um unser Leben!" geht es mir durch den Sinn.

Die Furcht vor den reißenden Bestien, die uns gewittert haben müssen, kriecht mir wie eine kalte Schlange über den Körper. Aber noch hoffe ich auf die Ausdauer der Pferde und den Instinkt des Kutschers, der trotz der Abweichung vom Wege die Richtung hält. Vornehmlich aber auf die Vorsehung, die mich so oft auf meinen Fahrten durch die wilde Steppe in wunderbarer Weise vor dem sicheren Tode gerettet hat.

Heihei! laufen die Pferde, was der Wagen halten kann, aber die Distanz zwischen den Bestien und uns scheint eher zusammenzuschrumpfen als zu wachsen. Die Furcht vor dem Kommenden macht uns das Blut gefrieren — als mit einemmal vor der Schneewand ein rauher Laut an unsere Ohren schlägt. Sollte es ein Wolfslaut sein? Aber noch ehe ich überlegen kann, sind wir von Hunden umringt, die der Kutscher mit der Peitsche von mir abhalten muß. Erst als ihn die Hunde erkannt haben, folgen sie seinem Befehl. Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, sind wir im Zeltdorf meines Gastgebers angelangt und in voller Sicherheit...

Während der Kutscher schnell Allah dankt, holt mich der in zottige Pelzkleidung gehüllte Mokane, der Herr und Gebieter der Großherde, mit eisernem Griff aus dem Wagen und trägt mich wie eine mythische Gestalt in sein großes Zelt, das von den Zelten seiner Hirten wie ein Riesenschwamm, von kleinen Schwämmen im Schnee umgeben, aussieht.

Im Zelt des Gastgebers, das mit farbenfrohen Teppichen aus Schafwolle ausgelegt ist, siedet ein großer, gußeiserner Kessel über einem Haufen Tiermist, und aus diesem Kessel erhalten die erschrockenen und halb erfrorenen Ankömmlinge soviel Tee mit Rum, wie sie trinken wollen. Rasch dringt uns die Wärme im Zelt in die Glieder. Auf einem Ballen von weißen und schwarzen Lammfellen warte ich auf das Kommende.

Als sich der Tag zu Ende neigt, hört der

Schneefall auf. Der Abendstern zeigt sich am Himmel und sendet sein bläulich schimmerndes Licht auf das tiefeingeschneite Zeltdorf herab. Blaue Märchenschatten huschen über das unendliche Weiß der Steppe. Aus alten Zelten steigen grauschwarze Rauchsäulen kerzengerade in die Abendluft. Schon trägt der leise Wind, der sich aufmacht, den Duft von gebratenem Schaffleisch zu mir. Ich kehre in das Zelt, aus dem ich ins Freie getreten bin, zurück. Auch hier kitzelt schmorendes Schaf fleisch meine Nasennerven. Im Teekessel brutzeln faustdicke Mehlklöße in Schaffett und kochender Rotwein sendet seine Geister duftend zur Zeltdecke.

Auf dem schwarzgrauen, zottigen Bodenteppich, umringt von den Hirten in rauhen Pelzen, sitzt nun wie ein König mein Gastgeber. Unter allgemeinem Schweigen greift er nach seiner spitzen Schaffellmütze und legt sie mit bedeutsamer Geste neben sich auf den Teppich. Dann erhebt er sich, um in die Knie zu sinken und ein dreifaches Kreuz zu machen. Ihn umringend, neigen sich die Hirten auf ihre Stäbe, und langsam, Wort für Wort, wird das Vaterunser gesprochen. Nach dem Gebet beginnt das Abendmahl. Zwei Hirten bedienen. Sie tragen gekochte und mit Honig vermengte Weizenkörner, saure Brotfladen und glühenden Rotwein auf. Das Fleisch darf erst nach Mitternacht, nach der Geburtsstunde des Heilands, aufgetragen und gegessen werden. Sobald einer der Hirten sein Mahl beendet hat, bekreuzigt er sich, dankt dem Herrn und geht leise, den Hirtenstab vorantragend, aus dem Zelt.

Nach Mitternacht — der Glühwein, den der Gastgeber und ich schweigend trinken, geht eben zu Ende — trägt ein Hirte, der älteste, ein schneeweißes Lamm, das soeben geboren wurde, auf den Armen zu uns ins Zelt und legt es dem Herrn der Herde Zu Füßen.

Seltsam. In diesem Augenblick, da das Lämmlein hereingebracht wurde, schwiegen alle Hunde wie auf einen unhörbaren Befehl. Jedes Wort, jeder Laut, jede Bewegung, jedes Lüftlein scheint erstarrt zu sein. Drinnen und draußen herrscht dieselbe Ruhe. Eine heilige Stummheit hat alles ergriffen, und über dem Zelt, aus dem wir treten, steht groß und sprühend der Morgenstern ...

Auf einmal aber, wie aus den Tiefen der Steppenerde hervorquellend, läßt sich ein schauerlicher Ruf hören: „Wölfe!“

Im Hirtenlager entsteht Tumult, alle - rennt, um die gefährdete Herde, die zusammengetrieben die Nacht zubringen sollte, in Schutz zu nehmen. Rufe und Hundegebell werden immer lauter. Nur der Wirt regt sich nicht. Er tut so, als ob ihn die ganze Sache nichts anginge, nimmt das schneeweiße Lämmlein in seine Arme und schmiegt es zärtlich an sich. Dann sagt ér vernehmlich und doch wie aus einer anderen Welt: „Der Wolf hat erfahren, daß das Lamm, die Unschuld, geboren wurde, und nun sucht er, sie zu zerreißen ..."

Nach einer geraumen Weile, als der Lärm draußen verstummt ist, erscheinen drei Hirten im Zelt und verneigen sich vor dem Herrn, der das Lamm in den Armen hält. Sie berichten über die Abwehr der Wölfe und melden, daß der Weihnachtsmorgen angebrochen ist. Der Herr legt das neugeborene Lamm als Geschenk in ihre Hände, und sie ziehen, Segenswünsche singend, glücklich ab ...

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