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Herde im Heimgang

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Das Tal ist bereit. Die Tage steigen auf wie ein Fest, blausilbern in weichen Nebelhüllen erwachen die Berge. Gegen den frühen Mittag stehen sie schon mit blanken Graten da. Es ist alles durchsichtig, zart wie Seide. Das Tal trägt den ersten leisen Herbst auf den Schultern. Die Bäume winken mit roten prallen Früchten ihm entgegen. Ijie letzten Heukuppen verlieren ihren nächtigen Zauber und zerflattern weich und duftverhauchend. Die Wiesen sind glatt und glänzend geworden, als ob ein Hobel über sie gefahren wäre. An manchen Orten ähneln sie einer großen Schürze, die man wieder sauber geflickt und gebügelt hat. Man muß das nur mit rediten Augen besehen.

Nachbar! sagt einer über den Zaun hinüber, heute kommen sie! — Er trägt noch die Heukappe wie ein geheimer Henker über dem Kopf.

An was denkt er?

Das Tal ist bereit, sie zu empfangen. Heute kommen sie.

Das Tal und die Menschen sind bereit, die den Tag schwinden sehen mit einer inneren stillen mächtigen Erwartung. Man tut noch die gewohnten Handgriffe, aber man ist nicht mehr so ganz dabei wie alle Tage. Man denkt: In einer Stunde oder in zweien — auf den Äckern heben die Leute die Köpfe manchmal hoch. Gegen den Alpweg heben sie die Köpfe.

Einer sieht zuerst den weißen verworrenen dichten Schwarm. Der hohe Waldstreifen beginnt weiß zu blühen, ein Streifen, der plötzlich Leben wird. Die Schafe kommen!

Im Mai entließ sie das Tal. Nun bringt der Herbst sie wieder, viele Hunderte. Von allen Seiten und Höhen, Hängen und Halden stürzen sie wie ein Wasserfall aus Wolle zur Tiefe. Man hört das Schreien und Rufen der Hirten. Man hört das Geglock und Geklämpel. Was sagst du, Nachbar, hab ich recht? In einer Stunde kommen sie! Oh, was ist das für ein Tag!

Der Wald nimmt sie auf. An seinen durchlichteten Blößen quellen sie wieder, schon näher, lebendiger. Das mischt und mengt sich blökend und hastend, einander überdrängend, in einer Fülle, daß das Auge flirrt. Hirten und Herde wettern gegeneinander. Nach so viel Freiheit drückt der leiseste Zwang. Ein Mutterschaf überfällt die Stunde, die mütterliche. Mitten im Gewühl, am Wege steht es da, vom Leben überschüttet, zitternd und erstaunt über das neue Geschöpf; das schon hinein in die Herde, auf den Weg, in die Wanderschaft gestellt ist. Behutsam nimmt es der Hirt in den Arm. Dann tosen die Schreie von neuem auf, die Geißeln knallen, das Geklemper schwillt beängstigend an, schwingt auf und nieder, dem Tal zu. Wolle an Wolle, Maul an Maul, so klampft und klappert es über Stein und Stock. Die letzten Kehren kommen. Der Hag hält den Lattenzaun offen wie ein hölzernes Maul. Frauen in blauer Gewandung und weißen Kopf- flügeln stehen erwartend wie hilfsbereite Nonnen. Unter einem mächtigen Baum, der seine Zweige weit über den Anger streckt, weiden schon die blökenden jüngsten Lämmer. Sie sind vor dem großen Gewühl gekommen. Jetzt erst bricht die Herde mit Huissa und Hoe in die Hürde ein, ein wolliger Strom, der wild einmündet. Inmitten der wirbelnden, einjagenden Schafe rudert mächtig und beherrschend der Hirt vom Berge. Es ist sein großer Augenblick. Hälse recken sich nach ihm, eine große Bewegung läuft durch die schlichten bäuerlichen Menschen, die den Hagzaun umsäumen. Man grüßt ihn wie einen, der einen Sieg ins Tal bringt, einen Sieg über Wetter und Einsamkeit. Man ist stolz auf ihn. Ist er nicht aus unserm Holz? Ist er nicht ein junger, ein verläßlicher Hirt, den man vertrauen kann?!

Seht die Herde, wie sie ihn umspült, sich an ihn drängt, wie er durch sie schreitet, von Lamm zu Lamm, wie seine Blicke prüfend und froh auf allen ruhen. Oh, er trägt einen geschmückten Hut, einen bunten herbstlichen Strauß. Einen ganzen Blütenkranz! Und er trägt ihn wie ein Herr und dazu einen Mantel von Einsamkeit, die auf seinen hageren Schultern ruht, die ihn noch immer schmückt. Ganz eingehüllt ist er davon. Sie war seine große feierliche Gefährtin all die Monate. Sie lag um und über ihn in sonnigen und schauerschweren Tagen. Sie rührte mit dem Stemenfinger an sein Lager in einer niederen Steinhütte hoch über allen menschlichen Behausungen. Durch sie wurde sein Haupthaar lang und sein Bart, der nun das junge Gesicht umrahmt. Sie formte seine Gedanken, seine Sinne, seine Welt!

Nun, da sie sich von ihm zu trennen beginnt, hält er sie noch eine Weile fest, versonnen und gut, wie den Stock in seinen Händen, und den Blick, der noch alle seine Schafe umfaßt — alle —

Morgen werden sie geteilt und verstreut nach allen Richtungen und Winden.

Der alte Vater tritt auf ihn zu ohne Worte. Nur die grauen Augen tragen einen feuchten Schleier, einen Schein von Glanz und Glück. Und dann die Mutter. Es ist wie Segnen der beiden über den Sohn.

Die Berge legen ihre Glieder zum Schlaf zurecht. Über einem hohen Grat erblüht ein Stern. Er findet die Steinhütte hoch oben auf Gatschetta leer. Er muß eine Weile wandern und spähen, bis er den Hirten in der Hürde inmitten seiner heimgekehrten Herde findet, um durch ihn die Gnade des Friedens dem herbstlichen Tal zu spenden.

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