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Agrarkabarett in Brüssel

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Der preisgekrönte Roman des Salburger Jungliteraten Franz In-nerhofer, „Schöne Tage“, schildert, sprachlich eindrucksvoll und für den Kenner bäuerlicher Lebensformen faszinierend, die Agrargesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre, mit allen Licht- und Schattenseiten.

Der Roman, 1974 erschienen und in vielen Aussagen durchaus zutreffend, läßt aber für den unkritischen und weniger informierten Leser die Frage offen, wieweit die bäuerlichen Familien im Rahmen der rasanten Entwicklung zur Industrie-und Dienstleistungsgesellschaft die Eingliederung in die arbeitsteilige Volkswirtschaft und den damit verbundenen strukturellen Veränderung?- und Anpassungsprozeß substantiell verkraftet haben.

Wenn heute die österreichische Landwirtschaft den Ernährungsbedarf trotzdem zu mehr als 80 Prozent deckt — es werden immerhin jährlich mehr als 8100 Milliarden Kalorien verzehrt —, so ist dies in erster Linie dem Leistungswillen, der Mobilität und den unternehmerischen Qualitäten der bäuerlichen Betriebsinhaber, unterstützt von Förderungsmaßnahmen des Bundes und der Länder und Genossenschaften, zu verdanken. Die Agrarpolitik in allen westeuropäischen Industriestaaten ist aber an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend an einer entscheidenden Phase der Bewährung angelangt. Es geht darum, die Existenz der bäuerlichen Betriebe nicht nur in guten Produktionsgebieten, sondern auch in ungünstigen Lagen zu erhalten, weil gerade diese Regionen nicht selten einen großen Erholungswert für die Gesellschaft haben. Es geht darum, in Zeiten unsicherer Weltmärkte die Ernährungsgrundlagen zu sichern und die Voraussetzungen für eine lebenswerte Umwelt in einem ständig knapper werdenden Lebensraum zu schaffen, was ohne eine funktionsfähige Landwirtschaft nicht möglich

In allen Industrieländern ist die Landwirtschaft in Bewegung geraten, Unsicherheit und Unruhe greifen um sich. Daß vor allem in Europa die Bauern immer stärker zu gewerkschaftlichen Methoden greifen, um ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Forderungen Gehör zu verschaffen, ist nur eines der Merkmale des großen agrarischen Gärprozesses in unsere/ Zeit. Die inflationäre Entwicklung und mangelnde Geldwertstabilität treffen vor allem die Mittelschichten, zu denen auch die Landwirtschaft zählt Die Agrarpolitik steht daher vor der entscheidenden Aufgabe, einerseits die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer gesunden Landwirtschaft, die ihren Preis hat, zu überzeugen, und anderseits Maßnahmen zu verwirklichen, die von den Betroffenen bejaht werden können. Rationalisierung, Mechanisierung, Spezialisierung, überbetriebliche Zusammenarbeit und moderne Vermarktungsformen bleiben für die bäuerlichen Menschen ein Schlagwort, solange für ihre breite Verwirklichung die organisatorischen und finanziellen und steuerlichen Voraussetzungen fehlen oder nur ungenügend vorhanden sind. Für die Agrarpolitik besteht daher die Notwendigkeit, sie neu zu überdenken und neu zu orientieren, zukunftsbezogen zu gestalten und glaubwürdig auszuformen.

Das sich fast täglich abspielende Agrarkabarett in Brüssel ist letztlich ein tragisches Zeugnis dafür, wie wenig Gemeinsames es in der europäischen Landwirtschaftspolitik in einer Zeit noch gibt, die mehr, denn je die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg erfordern würde. Die europäische Agrarpolitik ist ins Stocken geraten, was erklärt, warum viele Bauern unsicher geworden sind. Die Agrarpolitik als staatspolitische Aufgabe ersten Ranges sollte daher so schnell wie möglich im Interesse aller funktionsfähig gemacht werden.

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