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„Aneinandergekettete“

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Wer ein Bücherliebhaber ist und viel Bücher liest, der wird eines Tages eine seltsame Entdeckung machen: Es gibt im Grunde genommen nur wenige Bücher, die einen nachhaltigen Eindruck auf ihn, den erfahrenen Leser, gemacht haben und ihm immer in Erinnerung bleiben werden. Ähnlich wie man sich noch nach Jahren und Jahrzehnten einer besonders schönen Stunde, einer Begegnung mit einem schönen Menschen, eines guten Wortes erinnert. Ein solches Buch ist die kleine Broschüre des Prälaten Dr. Johannes Österreicher „Wiederentdeckung des Judentums durch die Kirche“. Der kleine Band umfaßt 94 Seiten, davon macht der Anmerkungsapparat allein zwölf Seiten aus, der dokumentarische Anhang weitere zehn und verschiedene Vorworte, die nicht vom Verfasser stammen, 28 Seiten, so daß das eigentliche Werk des Autors nur ganze 54 Seiten umfaßt. Aber diese wenigen Seiten enthalten eine „summa“ des Problems der Beziehungen zwischen Juden und Christen, wie sie nicht einprägsamer dargestellt werden könnte.

Aber zunächst ein kurzes Wort über den Verfasser. Johannes Österreicher ist ein Jude aus Mähren. Als Erwachsener empfing er die Taufe. Er studierte katholische Theologie und wurde zum Priester geweiht. Ausdrücklich bekennt er, daß er durch die Taufe Christ wurde, aber nach wie vor dem jüdischen Volk angehört und immer angehören wird. Schon vor 1938 bemühte er sich in Wien besonders um die Wiederbelebung der Beziehungen zwischen Juden und Christen.

Die Besetzung Österreichs durch Hitler vertrieb ihn von diesem Wirkungsfeld. Österreicher landete schließlich in den Vereinigten Staaten und ist seit langem Leiter des Institutes für jüdisch-christliche Studien an der Seton-Hall-Univer-sität in South Orange. Er schrieb mehrere Bücher, wie „Auschwitz, der Christ und das Konzil“, sowie „Der Baum und die Wurzel“. Enorm wichtig für die Kirche wurde seine Tätigkeit am II. Vatikanum. Er hat die berühmte Erklärung des II. Vatikanums über die Juden vorbereitet, durch welche Erklärung bekanntlich einerseits die Juden von jeder Kollektivschuld am Tode Christi freigesprochen wurden und anderseits der Wunsch geäußert wurde, daß Christen und Juden einander wahrhaft kennenlernen mögen. Diese Judenerklärung des II. Vatikanums bedeutet einen großen Erfolg für das bisherige Wirken des Prälaten Österreicher. Denn gegen die Erlassung der Judenerklärung wurde am Vatikanum eine sehr heftige Propaganda entfaltet. Dabei spielten nicht so sehr antisemitische Gedanken mit, wie vielmehr politische Erwägungen. Katholische Bischöfe aus der arabischen Welt fürchteten, daß die Judenerklärung die Existenz der katholischen Kirche in den arabischen Ländern gefährden könnte. Das Vatikanum aber nahm mit großer Mehrheit die Judenerklärung an, da es auf dem Standpunkt stand, daß das Vatikanum sich mit religiösen Fragen ohne Rücksicht auf die Tagespolitik zu befassen habe. Am Abend nach der Annahme der Judenerklärung empfing Paul VI. Prälat Österreicher und gratulierte ihm, wobei er ihm ausdrücklich versicherte, daß diese Judenerklärung in erster Linie sein Werk sei.

Viele Christen haben diese Judenerklärung des Vatikanums teils leichtfertig und teils aufatmend zur Kenntnis genommen. Sie waren glücklich, daß durch diese Erklärung endgültig ein Kapitel in der Geschichte der Kirche abgeschlossen worden war, das im Laufe der Jahrhunderte sehr viele düstere Seiten aufzuweisen hatte, die nicht zum Ruhme vieler Katholiken gereichen.

Daß diese Judenerklärung aber viel mehr bedeutet als die Liquidierung einer traurigen Vergangenheit, beweist Prälat Österreicher mit seinem kleinen Buch. Er beweist vor allem, daß die Konzilserklärung nicht die Antwort der Kirche auf die Greuel von Auschwitz ist, so sehr es dieser Greuel auch bedurfte, um das christliche Gewissen aufzurütteln. Die Judenerklärung ist theologisch gesehen viel mehr: Es ist das Bekenntnis der Kirche, daß es ein Neues Testament nicht ohne Altes Testament gibt, daß sogar die Verkündigung des Evangeliums das Alte Testament und die Thora voraussetzt, ja daß das Neue Testament erst zur Bibel wurde durch die Anfügung an das Alte Testament. Wie die Juden nicht ihrem Schicksal entrinnen können, gekettet zu sein an den einen Gott, so können die Christen auch dem Schicksal nicht entrinnen, an das jüdische Schicksal gekettet zu sein.

So ergibt sich denn aus der kleinen Broschüre als Quintessenz der Judenerklärung, daß die Christen nicht so leben können als ob es kein Judentum gäbe und daß Christentum und Judentum bestimmt sind, nicht in Feindschaft, sondern in Freundschaft und noch mehr, in Verwandtschaft zu leben.

Dieses kleine Buch ist wirklich ein großartiges Werk und würde es verdienen, in die Hände vieler Katholiken und vor allem vieler Theologen und Priester zu gelangen, um endgültig alle Gräben zwischen Judentum und Christentum zu beseitigen und die Christen erkennen zu lassen, daß sie mit den Juden zusammen Kinder Gottes sind. Zum Schluß muß der Rezensent, der aus Böhmen, aber auch teilweise aus Mähren stammt, noch seiner Freude darüber Ausdruck geben, daß diese Meisterleistung einem mährischen Landsmann gelang. Mähren ist das Land des Ausgleichs und der Versöhnung, in dem Tschechen, Juden und Deutsche friedlich miteinander lebten. Der mährische Ausgleich von 1905 gelingt hier dem Mährer Österreicher auf theologischem Gebiet.

DIE WIEDERENTDECKUNG DES JUDENTUMS DURCH DIE KIRCHE. Von Johannes Österreicher. Kyrios-V erlag, Meitin-gen-Freising, 94 Seiten.

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