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Über Gott, den Menschen und die Welt

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Die Hunderte von Aphorismen dieses Weinbauern aus der Ardeche (Cevennen) genügen, den Ruhm eines Schriftstellers zu begründen, hat Gabriel Marcel geschrieben. Thibon weiß wohl um Theologie und Metaphysik, aber er will weder das eine noch das andere lehren: er will nur Zeugnis geben. Was er schreibt, ist erdnah, nicht abstrakt, praktisch, nicht spekulativ. Gott ist das Zentrum seiner Welt, und wer sich nicht bei ihm bergen will, der wird an ihm zerschellen.

Wenn es einen Gott gäbe, würden solche Scheußlichkeiten nicht möglich sein, hat er mir zugeschrien. — Aber wenn es Gott nicht gäbe, wenn der Welt keine geistige Ordnung zugrunde läge, wenn das Chaos alles beherrschte, so würde es auch deine Seele beherrschen und du würdest dich dagegen nicht auflehnen. Daß dir Ärgernis und Angst aus verletzter Weltordnung erwachsen, zeugt für den Schöpfer dieser Ordnung. Diese Empörung, welche dich Gott leugnen läßt, ist Gottes Stimme in dir, allerdings noch eines wirren, ohnmächtigen und beschränkten Gottes Stimme.

Der Mensch hat den idealsten Ruheplatz in seinem eigenen Schatten finden wollen. Ergebnis: Der Mensch läuft noch immer und wird laufen, solange er Beine und Lungen hat, solange die Natur seinem Rausche Kräfte verleiht. Sein Schatten jedenfalls ermüdet nicht zuerst.

Die Erde wäre schnell unbewohnbar, wenn jeder aufhören wollte, das aus Höflichkeit zu tun, was er aus Liebe zu tun unfähig ist. Dagegen wäre die Welt sozusagen vollkommen, wenn jeder aus Liebe zu tun vermöchte, was er aus Höflichkeit tut.

Der Schmerz ist die Wunde, durch welche der Mensch sich des Irdischen entleert und den Himmel in sich aufnimmt oder — die Hölle.

Wolken am Himmel, Schmutz auf der Erde: so muß der Frühling sein. Das aber darf nur gewisse Zeit dauern, und muß einen trockenen Sommer, klaren Himmel und harte Erde vorbereiten. Sonst wird nichts reifen. Man muß wählen: entweder Blume bleiben und verwelken — oder sterben und Frucht werden.

Die Tugend „an sich“ existiert nicht; im Angesichte von Fleisch und Blut platonisch zu werden, ist Täuschungsmanöver.

Unsere Zeit — ist das nicht einer ihrer bezeichnendsten Züge? — scheint ganz im Zeichen der Versicherung zu stehen. In einer Grenzlage keine Zufälligkeiten, keine Glücksfälle mehr, alles ist vorgesehen, geregelt, garantiert: man schlägt nichts mehr in die Schanze.

Der Mythos der absoluten und universalen Versicherung wandelt sich in diese Ungeheuerlichkeit: eine Vorsicht, welche die Vorsehung überflüssig macht.

Seit einem Jahrhundert entwickelt sich die Welt mit Riesenschritten. Alles überstürzt sich; der Wind des „Fortschritts“ peitscht unser Gesicht. Ein bitteres Vorzeichen: stete Beschleunigung eignet fallenden, nicht steigenden Körpern.

Im Mittelalter kannte man nicht alle Windungen des menschlichen und kosmischen Türschlosses; aber man besaß dessen Schlüssel: Gott. Seit Descartes hat man dieses Türschloß gründlich erforscht, man hat es immer genauer beschreiben können, aber bei diesen Bemühungen hat man den Schlüssel verlegt! Welt und Mensch sind nun Schlösser ohne Schlüssel, übrigens kümmert sich das gesamte moderne Denken gar nicht mehr um Beschaffenheit oder Vorhandensein dieses Schlüssels. Die einzige Aufgabe, die sich ihm vor einer verschlossenen Türe stellt, ist die: sie sehr sorgfältig zu untersuchen, sie aber nicht zu öffnen!

(Übertragen aus „Vichelle de Jacob“ von Dr. J. Keckeis, Neuch&tel.)

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