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„Asoziale Uniformität“

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Mitten in London steht Centre Point, ein zweiunddreißigstöckiges Bürohochhaus, schon mehr als sieben Jahre lang leer. Der Rasterturm von monotoner Häßlichkeit wurde seinerzeit billig um 5 Millionen Pfund errichtet. Seither muß der Bauherr die Instandhaltungskosten tragen und außerdem an den Grundeigentümer eine jährliche Pacht von 18.500 Pfund zahlen. Trotzdem hat er bis jetzt glänzend spekuliert. Denn wegen der Verdoppelung der Büromieten ließe sich das Gebäude heute um nicht weniger als 20 Millionen Pfund verkaufen.

Im angrenzenden Covent-Garden-Viertel sind weitgehende bauliche Veränderungen geplant. Der dortige Obst- und Gemüsemarkt wird Ende 1973 nach Wandsworth übersiedeln und in der Folge soll der eher heruntergekommene Stadtteil ein neues Gesicht erhalten. Werden aber die Neubauten ebenso abstoßend ausfallen wie die meiste Nachkriegsarchitektur Londons? Bei einem Bodenpreis von 1000 Pfund pro Quadratmeter läßt das Zusammenwirken von Bürokraten und Spekulanten das Ärgste befürchten.

Diese unselige Allianz war in London von jeder besonders rege. Bereits unter den Hannoveranern wurde zumeist nach Gewinnkrite-rien drauflosgebaut. Dennoch erzwang der herrschende Geschmack einen wohlproportionierten Stil, dessen Überbleibsel in Backstein noch heute den Reiz der Stadt ausmachen. In der Viktorianischen Epoche war es mit dieser achtbaren Baugesinnung zu Ende. Das sprunghafte Anwachsen der städtischen Massen führte in der Bautätigkeit zu einer Diktatur des Minderwertigen. Schier endlose Vorstädte von lähmender Eintönigkeit, ein Hafenviertel von überwältigender Unmenschlichkeit sind bleibende Zeugen des kulturellen Verfalls.

Seit dem zweiten Weltkrieg macht sich dasselbe Unwesen wieder besonders auffällig bemerkbar. Was die Bomben zerstört hatten oder was sonst erneuert werden mußte, wurde fast ausnahmslos durch Gebäude im ödesten Baukastenklischee ersetzt. In den sechziger Jahren kamen klotzige Bienenwabentürme hinzu, die an allen Ecken und Enden aus der Erde schössen. Technische Machbarkeit und wirtschaftlicher Ertrag waren bei all diesen Projekten die einzigen gültigen Rücksichten. Der Erfolg ist eine fremdartige Stadtwüste, deren monumentale Künstlichkeit jedem menschlichen und natürlichen Maß spottet.

Wie andere Ballungsräume hat auch London die ursprüngliche Funktion der Stadt, dem Einwohner eine gediegene, anregende Umwelt zu bieten, in erschreckendem Umfang eingebüßt. Da die Gegenkräfte schwer zu organisieren sind, schreitet diese Kalamität fürs erste unaufhaltsam fort. Mit der Unerträglich-keit der städtischen Existenz sowohl bei der Arbeit als auch bei allen anderen Beschäftigungen wächst indes der Widerstand. Die Erkenntnis, daß die Nachteile längst die realen Vorteile überwiegen, führt, wenn auch schleppend, zur Besinnung.

Schon individuelle Opposition kann so manches ausrichten. Als die Bewohner halbverfallener Häuser in die eben fertiggestellten Zinstürme umgesiedelt werden sollten, weigerten sich viele, umzuziehen. Ziemlich bald mußte die Stadtverwaltung feststellen, daß die Hochhäuser Unfrieden züchten. Die Parteien sind gereizt und streiten viel mehr als auf ebener Erde. Statt die gemeinsamen Anlagen zu schonen, lassen sie diese vorsätzlich verkommen. Jugendliche toben sich mit Gewalttaten gegen Personen und Eigentum in der ganzen Umgebung aus. Mittlerweile sah sich das Bauamt zu dem Beschluß gezwungen, vom Aufführen weiterer Wohntürme Abstand zu nehmen.

Bei den Neuverbauungsplänen, die Covent Garden und Piccadilly Cir-cus betreffen, wird sich zeigen, was organisierter Widerstand erreicht. Nach dem Willen der jeweiligen Antragsteller würden möglichst profitable Gebäude, wie Bürohäuser und Hotels, entstehen. Natürlich würde billig und daher häßlich gebaut werden. Dabei würde ein gemischtes städtisches Milieu, in dem

Leute wohnen und verschiedenen Berufen nachgehen, durch asoziale Uniformität zerstört werden. Ohne Zweifel würden diese Schandtaten von den Behörden in kaum gemilderter Form gebilligt werden, weil die Behörden mit hohen Steuereinnahmen rechnen könnten. Als die Pläne jedoch der Öffentlichkeit vorgelegt wurden, schlössen sich die vom Vertriebenwerden Bedrohten sofort zu Einwohnertrutzverbänden zusammen. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurden beide Projekte vorläufig zur Umarbeitung zurückgezogen.

Nichtsdestoweniger hat die überfällige Neuorientierung im Grundsätzlichen bestenfalls erst begonnen. Bausünden, Verkehrschaos, mangelnde Befriedigung bei der Arbeit, Vermassung sind insgesamt Teile allgemeiner Fehlentwicklungen des Industriezeitalters. So lautet die in E. J. Mishans „The Costs of Economic Growth“ Pelican-Taschenbuch vertretene These, daß das vielgepriesene Wirtschaftswachstum auch in England in seinen überwiegenden Tendenzen verfehlt ist. Diese Behauptung belegt er einerseits mit Analysen, die vom städtischen Niedergang über die Heilsillusionen der Wissenschaft bis zur Sterilität der Leistungsgesellschaft reichen. Anderseits nimmt er sie zum Anlaß, um wirtschaftliche Alternativen einer Neuordnung aufzuzeigen. Da nur maßvolle und wohldurchdachte Reformen Aussicht auf Erfolg haben, sind seine Vorschläge derzeit ein überaus aktueller britischer Beitrag zum Umdenken.

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