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Digital In Arbeit

Aug' in Aug' mit dem schwitzenden Tenor

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Ein Feiertags-Abend. Arbeit an einem längeren Manuskript. Dann: Anruf des väterlichen Freundes. Man müsse sich den „Troubadour“ doch ansehen. Schnell noch die Flasche Rotwein, dann ins Auto, und nun saßen wir da, dem Fernsehgerät gegenüber. Ein wenig skeptisch? Gewiß. Viel zu lang wurde über die Produktion geredet. Vielleicht gehören Skandale zur großen Oper, aber uns lasse man gefälligst aus dem Spiel, wir wollen von den Zänkereien der Sänger gar nichts wissen. Und dann überhaupt: dieser „Troubadour“! Ein Schauermärchen mit geraubtem Kind und geschändeter Unschuld. Nein. Sie nimmt sich ja noch vorher das Leben ... Umso schlimmer. Mit einem Wort: Wir waren nicht recht bei Stimmung. Dann aber ereignete sich so etwas wie ein kleines Wunder.

Filme können auf diese Art nicht wirken, auch Opernfilme nicht. Wir sind zwar durch Perfektion geblendet, aber unsere Instinkte sind wach und unbestechlich: sie verlangen nach dem Risiko. Sie wollen sehen, wie das Kunstwerk entsteht, Stück für Stück,

Satz für Satz, Ton für Ton. Die Instinkte wollen den Menschen beobachten: während der Aktion, allen Gefahren ausgesetzt. Filmaufnahmen werden geprobt, wiederholt, immer wieder aufgenommen. Dann ist die Szene „gestorben“. Das heißt in der Fachsprache: sie ist auf Film, in der Schachtel, erledigt, man muß sich um sie nicht mehr kümmern.

„Gestorben“, der Ausdruck ist verräterisch.

Wir wollen also das Abenteuer der Kunst. Zudem verdrießt uns die Perfektion. Wenn etwas perfekt ist, kann man nichts anderes als anerkennend nicken, zurücktreten, die Angelegenheit betrachten, und ihr dann endlich den Rücken kehren. Wenn etwas perfekt ist, haben wir damit nichts mehr zu tun. Es ist ja auch ohne unser Zutun perfekt. Es braucht uns nicht. Brauchen wir es?

In der Technik, gewiß. Beim Fliegen, zum Beispiel. Da möchten wir um ein perfektes Funktionieren der Düsentriebwerke doch schön bitten. Aber in

der Kunst? Kunst ist menschlich, sollte es wenigstens sein; Perfektion ist unmenschlich. Hier liegt der Hund begraben.

Warum wirkte dieser „Troubadour“ so stark? Weil er das Abenteuer der Kunst mit der Perfektion der Technik vereinte. Abenteuerlich war es, im Augenblick des Bühnengeschehens anwesend zu sein. Mitzuerleben. Das sind die Möglichkeiten der Life-Aufnahme. Die Zigeuner gingen hin und her, ihr Treiben wirkte ein wenig gekünstelt. Umso besser! Man konnte verweilen, nachdenken, den Fehler sehen. Auch hatte sich der Bühnenbildner die Sache allzu leicht gemacht. Der Horizont sollte aus solchen gemalten Streifen bestehen? Und was soll diese, in den Zustand der Schlachterfahrenheit versetzte, mit künstlichen Rissen versehene Theaterfahne? Auch der Tenor kam gegen Schluß ganz schön ins Schwitzen. Und der Sopran? Sie brachte es fertig, die schwierige Melodie tadellos zu singen und dabei nicht einmal mit der Wimper zu zucken. Ich meine: innerlich. Eine begnadete Fachkraft, fürwahr.

Das alles störte nicht. Im Gegenteil. Es beschäftigte die Phantasie. Ließ die Möglichkeit eines größeren Fehlers offen. Es war die Würze.

Die Life-Übertragung selbst sorgte für Perfektion. Da sah man kein abfotografiertes Musiktheater, sondern aufs Wesentliche konzentrierte Bilder. Wenn sich in der Oper (so sagt man ja) die Arie am Höhepunkt der Leidenschaft ereignet, so war im Falle der TV-Übertragung das Bild mit der Leidenschaft ebenfalls kurzgeschlossen. Wann einer hereinkam? Wozu es zeigen? Wichtig sind die Passionen. Die Gipfelpunkte. Und wichtig ist, daß wir die Helden in den Augenblicken der heftigsten Leidenschaft ganz genau sehen können. Aus der Nähe. Denn das können wir weder im Zuschauerraum, noch im Leben: den fremden Liebenden oder Hassenden in der Sekunde ihrer heftigsten Gemütsaufwallung unbeteiligt ins Gesicht starren. Hier kann das TV unsre Erlebnismöglichkeiten erweitern.

Und außerdem: Die Bilder waren auch noch vernünftig komponiert. Leute, die vom Handwerk nichts verstehen, nennen so etwas „schön“. Es geht aber um gesunde Proportionen, um optische Begebenheiten, die uns beruhigen oder

beunruhigen, um Farbschattierungen von berechenbarer psychischer Wirkung, es geht letztlich um Farbenlehre und Geometrie. In dieser Hinsicht waren die Bildausschnitte geglückt.

Daß Karajan in der Pause keine großen Worte machte, sondern vom Handwerk sprach, paßte zum Stil der Übertragung.

Nachdem sich das im Fernsehen sichtbare Opernpublikum ausgetobt hatte (und wir auch noch die Möglichkeit hatten, nicht mitzutoben), sprachen wir über dies und jenes. Über das Recht des Steuerzahlers, zum Beispiel, Opernaufführungen via TV zu sehen. Über die glänzenden Leistungen der Sänger. Über ihre Gagen. Und über die Notwendigkeit, viel öfter solche Life-Übertragungen zustandezubringen, denn in diesem Fall ist gefilmtes Leben aufregender als eine Aneinanderreihung von perfekten Szenen, die alle irgendwann „gestorben“ sind. Keine Zirkusarena taugt, in der der Clown niemals oder nur planmäßig stolpert.

Wie schön war doch dieser „Troubadour“! Wir spielten dann trotzdem noch eine Platte: Goethes „Winterreise“, gesungen von Richard Tauber. Musik: Franz Schubert.

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