6938011-1983_16_06.jpg
Digital In Arbeit

Bürgermißtrauen gegen Datengier

19451960198020002020

Nicht nur die bundesdeutsche Öffentlichkeit hat das Urteil der Karlsruher Verfassungsrichter überrascht, die für 27. April geplante Volkszählung zu verschieben. Der Widerspruch von staatlicher Neugier und individueller Anspruchshaltung ist aber kein typisch deutsches Phänomen.

19451960198020002020

Nicht nur die bundesdeutsche Öffentlichkeit hat das Urteil der Karlsruher Verfassungsrichter überrascht, die für 27. April geplante Volkszählung zu verschieben. Der Widerspruch von staatlicher Neugier und individueller Anspruchshaltung ist aber kein typisch deutsches Phänomen.

Werbung
Werbung
Werbung

„Gesiegt hat der freiheitliche Verfassungsstaat“, kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ den überraschenden Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichtes vom 13. April, die für 27. April geplante Volkszählung durch eine „Einstweilige Anordnung“ bis zur „Entscheidung in der Hauptsache“ auszusetzen.

Mit „Hauptsache“ sind die Verfassungsbeschwerden von über hundert Bundesbürgern gemeint, die bei den Karlsruher Verfassungsrichtern die Mißachtung ihrer persönlichen Grundrechte durch Teile dęs Fragebogens beklagen.

Vorausgegangen ist der Verschiebung der Volkszählung ein publizistisches Sperrfeuer gegen die „Datengier der Bürokraten“ (so die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“) und die „manische Schnüffel- und Uberwa- chungssucht des Staatsapparates“ („Der Spiegel“).

Hand in Hand damit ging eine Bürgerprotestbewegung, die sich wie ein Flächenbrand bald auf alle Bevölkerungsschichten ausbreitete. Knapp vor dem Urteil der Verfassungsrichter ermittelten Meinungsforscher, daß mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit Angst und Ablehnung auf die staatliche Neugier reagieren.

Noch im März 1982, als das Volkszählungsgesetz von Bundestag und Bundesrat einstimmig verabschiedet worden war, regten sich kaum kritische Stimmen — weder gegen den vorgelegten Fragebogen, noch gegen die Art der Durchführung, auch nicht gegen die Volkszählung insgesamt.

Warum dann nur ein Jahr später die große Verweigerung gegenüber scheinbar harmlosen Fragen wie solchen nach dem Beruf, der Größe der Wohnung oder dem zur Erreichung des Arbeitsplatzes benutzten Verkehrsmittel?

Warum das tiefe Mißtrauen gegenüber allen Beteuerungen der Behörden, die Beantwortung des Fragebogens diene ausschließlich statistischen Zwecken und keinesfalls der Ausspähung und totalen Überwachung des Bürgers?

Tatsache ist, daß trotz jahrelanger Vorbereitung und Diskussion der Erhebungsbogen selbst und die geplante Durchführung der Zählung erhebliche Mängel - auch aus der Sicht wohlmeinender Statistikwissenschafter — aufweisen: So fehlt zum Beispiel auf den Fragebögen der Hinweis, daß die Angabe der Telefonnummer nicht verpflichtend ist.

Dazu kommt, daß die Bedenken der staatlichen Datenschutzbeauftragten allesamt in den Wind geschlagen wurden. Die Datenschützer waren von Anfang an gegen die Verquickung von Statistik und Verwaltung, wie sie der beabsichtigte Abgleich der Adressen auf den Volkszählungsbögen mit den kommunalen Melderegistern gebracht hätte.

Mißtrauisch gegenüber dem „rein statistischen Zweck“ des Unternehmens mußte man auch dann werden, als einzelne Stadtverwaltungen ihren Zählorganen für die Ausforschung und Benennung unangemeldeter Ausländer „Kopfprämien“ von bis zu zehn D-Mark in Aussicht stellten.

Unter diesen Umständen wäre die Bundesregierung unter Helmut Kohl gut beraten gewesen, die Ein wände gegen eine Volks-

Zählung in der geplanten Form zu überprüfen und das Volkszählungsgesetz erneut der parlamentarischen Beratung zuzuführen.

Damit hätte Helmut Kohl nicht nur der Alternativ- und Sponti- szene Wind aus den Segeln genommen, auch die Sozialdemokraten müßten Farbe bekennen. Für die SPD wäre es nicht mehr so leicht, schadenfroh aus der Verantwortung für ein unter der SPD/FDP- Regierung beschlossenes Gesetz zu fliehen und die Zählung unter geänderten Machtverhältnissen in Bonn wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen.

Denn abseits aller taktischen Überlegungen hat die Volkszählungsdiskussion neue Dimensio-

nen im Verhältnis zwischen Bür-, ger und Staat zum Vorschein gebracht, die über den konkreten Anlaßfall und auch über Deutschland hinausweisen.

Die Fähigkeit der Bürger zum Mißtrauen gegen die Funktionsträger im entwickelten Industriestaat ist gewaltig. Das Mißtrauenspotential läßt sich nipht einfach darauf reduzieren, daß radikale Minderheiten die j,Staatsverdächtigung zum

Hauptprinzip ihres Agierens“ („Rheinischer Merkur“) machen.

Das Mißtrauen gegenüber einer anonymen, vielschichtigen und für den Durchschnittsbürger viel zu komplizierten Staatsmaschinerie hat sich über Jahre hindurch aufgestaut und ist deshalb auch nicht mit Aufklärungsaktionen, etwa anläßlich einer Volkszählung, aus dem Weg zu räumen.

Gegenseitige Schuldzuweisungen der Politiker an die Bürokraten und umgekehrt machen die Sache nicht erträglicher. Noch dazu ist der Bürger an diesem unerquicklichen Zustand nicht gerade unschuldig.

In den letzten Jahren haben die meisten europäischen Länder versucht, durch entsprechende Gesetze die Flut von Daten in privaten wie öffentlichen Datenbanken in den Griff zu bekommen, sprich: den Bürger vor der mißbräuchlichen Verwendung seiner persönlichen Daten durch Dritte zu schützen.

Das paradoxe Ergebnis: In dem Ausmaß, in dem die Sensibilität für die Schutzwürdigkeit individueller, sozialer und ökonomischer Daten angewachsen ist, haben auch die Ansprüche der Bürger zugenommen, mit allem, was der moderne Staat zu bieten hat, beteilt zu werden:

Man will möglichst rasch mit dem Auto von zu Hause an den Arbeitsplatz gelangen, will für jedes Lebensrisiko eine maßgeschneiderte Vorsorge und fordert von der staatlichen Bürokratie die entsprechende Planung für all diese Bedürfnisse.

Gleichzeitig wird die Individualität, das Grundrecht auf Privat- heit stärker betont als je zuvor. Hier muß es früher oder später zum Konflikt kommen.

Der Staat vermeint, nur durch noch so ausgeklügelte Planung der Erwartungshaltung seiner Bürger entsprechen zu können. Und fordert dafür als Preis ein bis ins kleinste Detail gehendes Bild der Bevölkerung, das mittels statistischer Total- und Detailerhebungen, Datenbanken in Sozialversicherungen und Finanzämtern zusammengetragen wird.

Der Bürger akzeptiert zwar staatliche Segnungen jedweder Art, fühlt sich aber durch die anonymen Be- und Verteilungsapparate zunehmend in der Entfaltung seiner Persönlichkeit beeinträchtigt. Am Ende verweigert er dem Staat die Auskunft.

„Die große Verweigerung paßt nicht zur unersättlichen (und darin infantilen) Anspruchshaltung. Die Anmaßung konkurriert mit der Weinerlichkeit“, beschreibt die „Süddeutsche Zeitung“ ihre widersprüchlichen Gefühle über den Erfolg der Volkszählungsgegner vor dem Verfassungsgericht.

Wahrscheinlich erst ein Jahr nach dem Orwellschen Signaldatum 1984 werden die Deutschen von Staats wegen erneut um Auskunft gebeten. Wenn bis dahin nicht ohnehin schon jeder Bundesbürger voll Stolz seine Bürgerkennzahl mit sich herumträgt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung