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Das königliche Spiel

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Betrachtet der Historiker moderne Epochen, wird er von der Fülle des Materials beinahe erdrückt, wendet er sich ferneren Zeiten zu, fließen die Quellen immer spärlicher, um an den Ursprüngen, wie dem Entstehen rudimentärer Formen von Zivilisation und Kulturen, fast ganz zu versiegen.

Der Geschichtsforscher, der vergangene Tage und Taten zu ergründen bemüht ist, wertet diese Quellen nach ihrer Glaubwürdigkeit. Er sucht nach unumstößlichen Zeugnissen; umstritten ist die Beweiskraft der Legenden. Mit Sagen und Legenden ist jedoch der Ursprung des ehrwürdigsten, des ältesten Spiels der Kulturmenschheit, des Schachs, verwoben. Die Aufgabe der großen Historiker des 19. Jahrhunderts, des Deutschen von der Lasa und des Holländers van der Linde, war die Reduktion dieser Legenden auf ihren Kern historischer Wahrheit. Die grundlegenden Werke dieser Schachhistoriker erschienen vor 100 Jahren. Seither ist in deutscher Sprache keine zusammenfassende Darstellung über das Entstehen des

Schachs, seine Entwicklung, seinen seltsamen Zug durch Zeiten und Länder erschienen.

Auf Grund neuer Forschungsergebnisse versucht das vor kurzem erschienene Werk „Geschichte des Schachs“ das Alter des Schachs zu bestimmen.

Im Gegensatz zu den bisherigen Lehrmeinungen nimmt der Autor an, das Schachspiel sei im 2. Jahrhundert v. Chr. in Indien erfunden worden. Es entsprach den religiösen Auffassungen des Buddhismus, und alles deutet darauf hin, daß dieses Spiel kultischen Charakter hatte. Die Araber brachten das Schachspiel nach Europa, und die ersten Urkunden über das Schach bilden zwei Testamente aus dem 11. Jahrhundert. In beiden Testamenten werden der Kirche wertvolle Schachfiguren vermacht. Eines dieser Testamente wurde an einem Bischofssitz in der

Nähe von Barcelona gefunden. Wie in dem Buch ausgeführt wird, hatte die Kirche um jene Zeit gegen die Spielwut mancher Kleriker zu kämpfen, vor allem war das Würfelspiel eine große und arge Versuchung. Einem Bischof von Langres wurde im 11. Jahrhundert die spöttische Grabschrift gesetzt, er habe im Leben stets alles verspielt, der Gewinn des Paradieses müßte ein reines Wunder sein. Um jene Zeit wurde Schach oft um hohe Geldbeträge gespielt, so daß die Kirche zwischen Würfel- und Schachspiel keinen großen Unterschied sah. Dies kommt in einem historisch bedeutsamen Brief zum Ausdruck, den Kardinal Petrus Damiani im Jahre 1061 an den Papst geschrieben hat. In diesem Brief erwähnt der Kardinal das tadelnswerte Verhalten eines Bischofs aus Florenz, den er auf einer Reise getroffen hatte. In der Herberge, in die sie einkehrten, sei der Bischof in der Halle geblieben, um mit anderen Reisenden Schach zu spielen. Er habe den Bischof nachher verwarnt, berichtet Damiani. Der Bischof habe sich zu verteidigen versucht und geltend gemacht, verboten sei lediglich das Würfelspiel (alia). Bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurde das Schachspiel öfters von der Kirche verboten. Mit der Zeit änderte sich dies.

Im Jahre' 1275 zeichnete der Dominikaner Jakobus de Cessolis seine vielbewunderten Predigten auf. Form und Inhalt entsprachen dem Geist seiner Zeit. Damals wurde selbst das Naheliegende, das alltägliche mit Fernerem und Höherem in Beziehung gebracht. Für Cessolis symbolisiert das Schachspiel das Leben der Menschen und das Schachbrett den Schauplatz ihres Treibens. An die Namen der einzelnen Schachfiguren knüpfte er moralische Betrachtungen. Die Schrift von Cessolis wurde in fast alle abendländische Sprachen übersetzt. Auch nach der Erfindung der Buchdruk-kerkunst. erschien diese Sammlung von Predigten in immer neuen Auflagen. Dieses Buch, das Jahrhunderte lang das verbreiteste nach der Bibel war, hält von der Lasa „nicht nur -mit Rücksicht auf das Schachspiel“, sondern auch in literatur-und geistesgeschichtlicher Hinsicht für eines der bemerkenswertesten Erscheinungen im ganzen Mittelalter.

Die Päpste förderten das Schachspiel, und aus den Reihen der Priester gingen angesehene Schachmeister hervor. Der erste große Schachtheoretiker ist der spanische Priester Ruy Lopez. Sein berühmtes Schachwerk widmete er dem Oberhofmeister des Infanten Don Carlos. Nach dessen Tod reiste Ruy Lopez im Gefolge eines christlichen Würdenträgers nach Rom. In der Ewigen Stadt maß er seine Kräfte im Spiel mit den italienischen Meistern, denen er sich als überlegen erwies. Wegen seiner Schachkunst in ganz Spanien bekannt, erhielt Ruy Lopez von Philipp IL, der das Schachspiel gleich vielen Königen jener Zeit eifrig förderte, eine Goldkette, an der statt eines Kreuzes ein goldener Schachturm hing. In Madrid fand im Jahr 1575 das erste internationale Schachturnier statt. Es wurde am königlichen Hof in Gegenwart König Philipps II. ausgetragen. Paolo Boi, der große italienische Meister, der an diesem Turnier teilgenommen hatte, wurde von der Kirche unterstützt, und der Papst bot ihm eine hohe Würdenstelle an.

Auch in neuerer Zeit hat die Kirche das Schachspiel gefördert. Papst Leo XIII. war jahrzehntelang Abonnent der deutschen Schachzeitung. Die Schachbewegung in den Reihen der katholischen Jugend in Deutschland leistete der Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus mutigen Widerstand, der sich auf der beschränkten Ebene des Schachs abspielte, und deshalb von der Geschichtsforschung nicht beachtet worden ist. Der amerikanische Großmeister Lombardy widmete sich dem Priesterberuf, er war während des Kampfes um die Weltmeisterschaft im Jahre 1972 der einzige Berater Fischers, dem der launische Exweltmeister volles Vertrauen schenkte.

Jacob Silbermann hat kl Rumänien junge Schachenthusiasten unterrichtet und aus ihnen ein Team von olympischem Standard gemacht. Sein Buch zeigt nicht nur die Früchte von gründlichen Recherchen, es ist der Ausdruck eigener, profunder Gelehrsamkeit. Es ist, wie eingangs angedeutet wurde, die erste umfassende Geschichte des Schachs seit einem Jahrhundert; es wäre ein trauriger Schachspieler, wer sie unter dem Christbaum vermissen würde.

GESCHICHTE DES SCHACHS. Text von Dr. Jakob Silberrhann, Kommentar der Partien von Großmeister Wolfgang Unzicker, Vorwort Pr. Dr. Max Euwe, Präsident des Weltschachbundes. Bertelsmann Ratgebverlag, München-Gütersloh-Wien. 338 Seiten, DM 36.—.

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